Olaf Riebe nimmt sich Zeit. Die Teilnehmer seiner Stadttour fragt er zuerst: „Wie spricht man Weißensee aus?“
Dazu muss man wissen: In Berlin sind Aussprachen tückisch. Beim Savignyplatz im schicken Charlottenburg liegt die Betonung auf der zweiten Silbe, nicht auf der dritten. Treptow, auch ein touristisch eher unbekanntes Pflaster, wird „Treeptoo“ ausgesprochen.
Und bei Weißensee liegt die Betonung auf dem „-see“. Selbst Wikipedia weist darauf hin - „Aussprache endbetont“. Wäre das geklärt.
Riebes nächste Frage ist nicht weniger knifflig für Leute, die es noch nie hierhin, in den Berliner Nordosten, verschlagen hat: „Was wissen Sie über Weißensee?“ Schweigen bei den rund ein Dutzend Teilnehmern von Riebes Tour.
Den Stadtführer überrascht dieses Schweigen nicht. „Weißensee hat kein Image“, sagt der 58-Jährige. Am ehesten falle den Menschen noch die DDR-Serie „Weissensee“ ein. Nur wurde die mit Doppel-„s“ geschrieben - und teils in Potsdam gedreht.
Neben der ARD-Serie haben manche vom Jüdischen Friedhof Weißensee gehört, dem größten in Europa. Er wurde 1880 eröffnet und beherbergt rund 115.000 Gräber. Um ihn in Ruhe zu besichtigen, lohnt eine eigene Führung, die unter anderem der Förderverein des Friedhofs anbietet.
Bei der Tour von Olaf Riebe geht es um einen Überblick zu diesem Kiez, der mal Berlins kleinster Bezirk war und nun zu Pankow gehört. Heute leben in Weißensee rund 55.000 Menschen.
Startpunkt der Führung ist der Antonplatz, an der Grenze zu Prenzlauer Berg. Es riecht nach Popcorn: Das kleine Programmkino Toni gibt es seit mehr als 100 Jahren, es hat zwei Säle.
Früher war Weißensee selbst Filmproduktionsstätte. Marlene Dietrich spielte hier ihre erste Rolle, erzählt Riebe. Auch der expressionistische Horrorfilm „Das Cabinet des Dr. Caligari“, ein Klassiker des Stummfilms, entstand 1920 in Weißensee.
Los geht's durch den Kiez. Am Mirbachplatz steht die 1902 errichtete Bethanienkirche. Oder das, was davon übrig ist: die glockentragende Turmruine. Ein Baugerüst verbirgt die Sicht, die Kirche wird zum Wohnraum. Weißensee ist begehrt, viele wollen hier leben.
„Ein Refugium für die, denen die Stadt zu laut ist“, sagt Riebe. Es ist friedlich. Kaum zu glauben, dass der Alexanderplatz eine Viertelstunde entfernt ist - mit der Tram M4.
Wahrscheinlich, glaubt Riebe, kommen so wenig Berlin-Besucher nach Weißensee, weil es nicht an die U- oder S-Bahn angebunden ist. Man muss entweder ein ganzes Stück laufen oder die Straßenbahn nehmen. „Am besten erkundet man den Stadtteil mit dem Fahrrad“, rät er.
Weiter ins Munizipalviertel. Hübsche Klinkerbauten, entworfen vom Architekten Carl James Bühring, an den in der Pistoriusstraße eine Gedenktafel erinnert. Bühring hatte Anfang des 20. Jahrhunderts den Auftrag, das damalige Arbeiterviertel Weißensee attraktiver zu machen. Die von ihm entworfene Siedlung steht heute unter Denkmalschutz.
Am Teich Kreuzpfuhl steht das Primo-Levi-Gymnasium, benannt nach dem italienischen Schriftsteller und Holocaust-Überlebenden. Davor verläuft die Woelckpromenade.
Ein Teilnehmer, er kommt selbst aus Weißensee, weiß: Hier wurde ein Teil der Serie „Babylon Berlin“ gedreht wurde. Riebe nickt. Und führt zum Holländer-Quartier. Gibt es nicht nur in Potsdam - auch wenn das dortige Holländische Viertel deutlich bekannter und älter ist.
Zu erkunden lohnt sich in Weißensee auch das Komponistenviertel mit seinen Gründerzeitbauten. Der Name des Viertels rührt daher, dass die Straßen großteils nach Komponisten benannt wurden - allerdings dürfte das bei Namen wie Bizet oder Borodin wohl nur Kennern auffallen.
Gebäude im Bauhaus-Stil sind in Weißensee ebenfalls zu sehen. In der Trierer Straße etwa stehen Häuser des Architekten Bruno Taut.
Und im Nachbar-Stadtteil Hohenschönhausen findet sich das Mies van der Rohe-Haus, auch Haus Lemke genannt. Von dort ist die Gedenkstätte Hohenschönhausen in einem ehemaligen Stasi-Gefängnis nicht weit.
Riebes Tour ist indes am Weißen See angelangt. Die Ursprünge des Stadtteils liegen dort, im 13. Jahrhundert entstand um den See eine Siedlung. Später, 1885, eröffnete ein Vergnügungspark nach Vorbild des Kopenhagener Tivoli.
Diese Zeiten sind vorbei, ruhig ist es an dem See mit seinem Strandbad und dem Milchhäuschen, einem beliebten Lokal mit Terrasse, aber nicht. Im Sommer könne man kaum einen Fuß vor den anderen setzen, sagt Riebe.
Dabei ist der Weiße See nur eines von vielen Gewässern hier. Wer Natur sucht, kann beispielsweise auch am Kreuzpfuhl oder Faulen See spazieren gehen. Und in der Nachbarschaft liegen der Orankesee oder der Malchower See.
Uta Popkes und Marie Spannaus bestätigen den Andrang am Weißen See. Sie engagieren sich in der „Bürger*inneninitiative „Weißensee erzählt seine Geschichte(n)““, einem Nachbarschaftsprojekt, über das sie die Menschen, die in Weißensee leben, vernetzen wollen: Alteingesessene, Zugezogene und Geflüchtete. Popkes, 56, lebt seit 1998 im Kiez, Spannaus, 25, studiert an der Kunsthochschule Weißensee.
Weißensee sei ein Ort für das Kleine und das Nette, sagen die beiden. Ein guter Stadtteil zum Spazieren. Mit Blick auf den nahe gelegenen Prenzlauer Berg sagt Spannaus: „Es geht hier nicht so um das Sehen und Gesehenwerden.“
Auf der Homepage zum Projekt - kiezgeschichten-weissensee.de - finden sich viele spannende Orte Weißensees: vom Brechthaus, wo Dramatiker Bertolt Brecht einige Jahre gelebt hat, bis zum Strandbad, das inzwischen fast 150 Jahre alt ist.
Zusätzlich zur virtuellen Erkundung bietet die Initiative geführte Spaziergänge durch Weißensee an. Die Touren orientieren sich an einem Thema, zum Beispiel dem Widerstand während der NS-Zeit, oder an einem Gebiet, zum Beispiel dem Viertel um die Kunsthochschule, oder den Gewässern in Weißensee.
Wichtig ist der Initiative, dass Anwohner ihre Sicht auf den Kiez zeigen und Teilnehmende sich austauschen können.
Und wo kehrt man ein? Gerade um den Antonplatz herum ist die Auswahl groß. Zwei Tipps: Im „Pastaladen“ tischt Alberto Porcheddu auf - von sardischen Ravioli bis Bärlauch-Pesto. Uta Popkes empfiehlt auch noch das „Babuschka“, eine ehemalige Fischräucherei, die sich in ein Café mit Mittagstisch und hausgemachten Limonaden verwandelt hat.
„Weißensee ist ein Ort, an dem sich nicht alles gleich zeigt“, sagt Popkes. „Aber man findet immer etwas.“
- Weißensee-Tour mit Olaf Riebe: Termine unter www.ansichtssachen-berlin.de und auf Anfrage; E-Mail: <ansichtssachen@web.de>
- Spaziergänge der Initiative „Weißensee erzählt seine Geschichte(n)“; E-Mail: <mitmachen@kiezgeschichten-weissensee.de>
- Führungen über den Jüdischen Friedhof über den Förderverein; E-Mail: <info@jewish-cemetery-weissensee.org>
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