Bahnkunden brauchen ein dickes Fell. ICE und Intercity sind gerade so unpünktlich wie seit Jahren nicht, die Güterbahn muss Transporte ablehnen. Das Schienennetz hat zu viele Engpässe - trotz und wegen hunderter Baustellen zugleich.
Bahnchef Richard Lutz will das Übel nun an der Wurzel packen: mit einer „Generalsanierung“ der wichtigsten Strecken, „radikal“ und „so schnell wie möglich“. Die Bahn und ihre Kunden müssen durch ein „Tal der Tränen“, wie es der Vize-Aufsichtsratschef nennt.
Fast jeder dritte Fernzug kam im April zu spät. Das Pünktlichkeitsziel für 2022 hat Lutz am Montag beerdigt. Seit Monaten klagt die Industrie über die Bahn, zeitweise standen 400 Güterzüge still. Ausgerechnet jetzt kommen die Kunden schneller zurück als gedacht; ab Mittwoch auch noch mit billigen 9-Euro-Tickets für den Nahverkehr. Es fahren so viele Züge wie nie.
Zwei Gründe: Das Netz hat zu viele Engstellen und Schienen, Weichen und Brücken sind in die Jahre gekommen. In Berichten zum Netzzustand ist zwar noch von „qualitativ hochwertigem Zustand der Schienenwege“ die Rede, doch Lutz bekennt nun, dass der Investitionsstau weiter wächst. Schon jetzt wird auf Rekordniveau gebaut, für rund 14 Milliarden Euro allein 2022. Doch der Spagat zwischen Bauen und Fahren gleichzeitig - er will nicht so recht gelingen.
Lange schon spricht die Bahn davon, Baustellen stärker zu bündeln - etwa an einer Strecke Weichen, Signale oder Leitungen nicht nacheinander zu erneuern, sondern zeitgleich. Kapazitätsschonendes Bauen nannte Infrastrukturvorstand Ronald Pofalla das. Wenige Wochen nach seinem Abgang kündigt Lutz an: „Wir müssen dieses Thema grundsätzlicher und radikaler angehen. Lieber eine große statt vieler kleiner Sperrungen.“ Setzte Pofalla auch stark auf digitale Technik, schränkt Lutz ein: „Wenn ich eine störanfällige Infrastruktur digitalisiere, bleibt es eine störanfällige Infrastruktur.“ Sein Ziel ist es, ein „Hochleistungsnetz“ zu bauen.
Das kann bedeuten, dass Strecken monatelang voll gesperrt werden. , Lutz bekennt ungewohnt deutlich: „Gleichzeitig wachsen und modernisieren auf vielen Korridoren ist mit gleichbleibender Qualität nicht mehr möglich.“ Will sagen: Es wird Umleitungen geben, Zugausfälle, Bahn-Frust. „Die Bahnverkehrsunternehmen und die Kunden werden durch ein Tal der Tränen gehen“, sagte der Vorsitzende der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft, Klaus-Dieter Hommel. Lutz sagt: „Mit jedem Korridor, den wir sanieren, wird es besser.“
Die Bahn hat die wichtigen Korridore im Blick, das Kernnetz, das lange überlastet ist und wo Verspätungen sich auf das ganze Netz auswirken. Dazu zählen etwa Dortmund-Duisburg-Düsseldorf-Köln oder die Knoten München und Hamburg. Wann und wo gebaut wird, steht aber noch nicht fest. Es wird viele Gespräche mit dem Bund und anderen Bahnunternehmen geben müssen. Erste Eckpunkte sollen aber vor der Sommerpause stehen. Lutz' Ziel: von 2024 an jährlich zwei bis drei dieser Korridore sanieren, um vor 2030 mit allem fertig zu werden. Ist ein Abschnitt saniert, soll er dann jahrelang „baufrei“ bleiben.
Für sie ist es jetzt schon nicht leicht. Seit Monaten gibt es Probleme. Baumaßnahmen und Störungen seien kaum noch beherrschbar, seufzte kürzlich ein Cargo-Manager in einem Mitarbeiter-Video. Spätestens wenn die Bahn Güter auf Lastwagen umlädt, weil die Züge nicht mehr durchkommen, läuft etwas falsch. Doch künftig wird das wohl häufiger der Fall sein, wie Lutz deutlich machte. Das sei besser als Produktionsausfälle. „Das gehört zur Ehrlichkeit dazu.“
„Wenn wir so weiter machen wir bisher, wird es nicht gelingen“, sagt Lutz. Er will, dass nach der Generalsanierung mehr Menschen und Güter auf der Schiene transportiert werden können - und dass die Kunden während der Arbeiten nicht abwandern. Güterverkehr auch nur zwischenzeitlich auf die Straße zu verlegen, kommt dagegen für die Cargo-Konkurrenten nicht infrage. „Wer die Wachstumsziele für die Branche und die Klimaschutzziele einhalten will, kann nicht ernsthaft die Verlagerung auf die Straße in die Rechnung aufnehmen“, kritisierte das Netzwerk Europäischer Eisenbahnen.
Die Bahn hatte den Investitionsstau im gesamten Netz zuletzt auf knapp 60 Milliarden Euro beziffert. Allein durch die stark steigenden Baukosten dürfte das schnell mehr werden. Für „Premium-Standard“ will Lutz außerdem an den wichtigen Strecken die Bahnübergänge beseitigen - was zusätzlich teure Brücken oder Unterführungen notwendig macht. Es brauche deutlich mehr Mittel für die Infrastruktur, meint die EVG.
Die Konkurrenten der Bahn zweifeln daran, dass es dem Staatskonzern gelingt, Baustellen besser zu bündeln. Denn das Geld dafür komme aus zu vielen verschiedenen Töpfen. „Wollte man hier grundsätzlich ran wäre dies auch ein Politikum“, teilte der Verband Mofair mit. Er fürchtet, dass darüber der vom Bund geplante Aufbau einer gemeinwohlorientierten Infrastruktursparte auf der Strecke bleibt.
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