Die Schreie lassen Boris Becker nicht los. In der ersten Nacht im Gefängnis hätten sie ihm am meisten zugesetzt. „Schreie, die klingen, als ob jemand Schmerzen hätte“, schreibt der 57-Jährige. „Als ob jemand Hilfe bräuchte. Als ob jemand stirbt.“ In seinem neuen Buch „Inside“ erzählt er, wie es ihm während seiner Haft in Großbritannien ergangen ist.
Boris Becker, größer kann ein Name in Deutschland kaum sein. Da ist der Sieg 1985 in Wimbledon mit gerade einmal 17 Jahren. Das Wunderkind, das beim bekanntesten Tennisturnier der Welt gleich dreimal gewinnt.
Ein Privatleben, das oft in die Schlagzeilen gerät. Höhen und Tiefen, gelebt unter den Augen der Weltöffentlichkeit. Am 29. April 2022 verurteilt ihn der Southwark Crown Court in London dann zu zweieinhalb Jahren Gefängnis, nachdem er in einem Insolvenzverfahren Vermögenswerte nicht ordnungsgemäß angegeben hatte.
Warum er auf der Anklagebank saß? „Weil ich Fehler gemacht habe und Dinge falsch eingeschätzt, einiges davon habe ich schnell begriffen, anderes hingegen erst, als es zu spät war“, schreibt er im Buch, das er mit dem britischen Sportjournalisten Tom Fordyce verfasst hat.
Das Buch schildert auf etwa 340 Seiten, wie Becker vor der Urteilsverkündung seine Sachen packt (Trainingsanzüge, Barack Obamas Autobiografie und ein Aftershave, das ihm später abgenommen wird) und eine Wimbledon-Krawatte umbindet. Wie er bei Haftantritt untersucht wird („Sie forderten mich auf, die Beine zu spreizen“) und sich zurechtfinden muss. Häftlingsnummer A2923EV.
Anfangs im berüchtigten Gefängnis Wandsworth untergebracht, in dem einst schon Schriftsteller Oscar Wilde einsaß, verbringt er seine Zeit in einer schimmeligen Zelle. Hält sich mit Frühstücksfernsehen, Atemübungen, Unterrichten und Anrufen bei seiner geliebten Lilian über Wasser.
„Es ging ums nackte Überleben, nichts weiter. Versuchen zu essen, versuchen zu schlafen“, schreibt Becker. Er verliert nach eigenen Angaben mehrere Kilogramm Gewicht, kommt später ins Gefängnis Huntercombe, wo er im Fitnessraum mithilft und einen Philosophiekurs über Stoizismus besucht.
Becker wird vor Gefahren gewarnt; versucht, sich von manchen Häftlingen fernzuhalten und ungeschriebene Codes zu verstehen. Gerät nach einem verlorenen Pokerspiel trotzdem in Schwierigkeiten. Muss sich in der Zelle, so schildert er, plötzlich mit sich selbst auseinandersetzen.
Die Beziehung zu Lilian de Carvalho Monteiro wird für ihn zum Anker. In der Widmung seines Buchs nennt er sie die „Frau, die mich gerettet hat“. Inzwischen sind die beiden verheiratet und Becker erwartet mit Lilian sein fünftes Kind. Sie und seine inzwischen verstorbene Mutter Elvira seien der Grund, warum er heute hier sei. „Ich liebe euch beide.“
Manchmal schimmert das Privileg des früheren Lebens durch. Etwa wenn Becker einräumt, dass er nicht wusste, wie man einen Wasserkocher bedient, oder wenn sich Mithäftlinge anfangs nicht für seine Tenniskarriere interessieren („Kein Spitzname, niemand sagte „Bum Bum”“). Dann liefert das Buch einen Einblick in den Kopf eines Menschen, der schon früh einen großen Erfolg verbucht hat.
Wollte man selbst diesen Ruhm haben? Was macht das mit einem? Wo sind es die Umstände? Und wo die eigene Verantwortung?
Becker erzählt, wie die finanziellen Sorgen in seinem Leben größer wurden. Alkohol, Frauen, Paparazzi. Berichtet, wie ihn Freunde im Stich lassen. „Ich war einmal der beste Tennisspieler der Welt. Ich besaß einmal mehr Geld, als ich jemals brauchen würde“, schreibt er. Das sei selbstverständlich gewesen. „Aber wer war ich jetzt?“
Nach mehr als sieben Monaten in Haft wird Becker nach Deutschland abgeschoben. „Bobbele“ verlässt England im Privatjet eines Freundes und ist ein freier Mann. Das erste Bier, die erste Pizza.
„Was Geld betraf, so hatte ich noch weniger als nichts“, schreibt er. Er habe eine Finca auf Mallorca, ein Haus in Leimen, eine Wohnung in London und eine Million Pfund auf seinem Bankkonto verloren und dem Insolvenzverwalter trotzdem noch fünfhunderttausend Pfund geschuldet. „Das muss man sich mal vorstellen: Du sitzt siebeneinhalb Monate im Knast, und wenn du rauskommst, wollen sie immer noch mehr von dir.“
Inzwischen lebt Becker im italienischen Mailand, sein Buch will er am Donnerstag bei einer Premiere in Berlin vorstellen. Wie viel Geld er für den Buchdeal bekommt, ist nicht bekannt.
„Inside“ fasziniert, weil es in das Gefängnis mitnimmt. Weil es den Fall eines Weltstars schildert, dessen Ehrgeiz und früheres Verhältnis zu Konkurrenten wie Andre Agassi („Er ist der Superstar. Und das kann ich nur schwer verkraften, denn ich brauche das Publikum“). Und weil es einen Blick auf die zwischenmenschlichen Beziehungen wirft, die hinter Gittern entstehen.
Es wirkt aber auch, als sollte das Buch zeigen: Den Boris Becker von früher gibt es so nicht mehr. Eine Läuterung mit dem Untertitel „Gewinnen - Verlieren - Neu beginnen“. Eine der Lektionen: Weniger über andere Menschen urteilen und sich mit sich selbst auseinandersetzen.
Als Elitetennisspieler sei man es gewohnt, nur nach vorn auf den nächsten Wettkampf zu blicken. „Die schlechten Dinge, die hinter dir liegen? Ignoriere sie. Pack sie weg“, heißt es im Buch an einer Stelle. Im Gefängnis habe er aber angefangen, Dinge neu zu bewerten und sein bisheriges Leben zu überdenken. „Das Gefängnis“, schreibt Becker dann auch, „lässt dich nie ganz los.“
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