Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnt im Gazastreifen vor einer tödlichen Hungerkrise. „Die 2,1 Millionen Menschen, die im Kriegsgebiet Gaza gefangen sind, sehen sich neben Bomben und Kugeln mit einem weiteren Killer konfrontiert: dem Hungertod“, sagte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus in Genf. „Wir erleben täglich einen Anstieg der Todesfälle aufgrund von Unterernährung.“
Seit Mitte Juli seien die Zentren überfüllt, die Kinder mit akuter Unterernährung aufnehmen. Sie hätten nicht genügend Spezialnahrung, um sie notdürftig zu versorgen. Seit Anfang des Jahres seien mindestens 21 Kindern unter fünf Jahren durch Mangelernährung gestorben. Diese Fälle habe die WHO selbst dokumentiert. Nach Angaben des Welternährungsprogramms (WFP) lebt inzwischen ein Viertel der Bevölkerung „unter hungernotähnlichen Bedingungen“.
Der sechsjährige Adam wache nachts vor Hunger oft weinend auf, sagt seine Mutter Sama Abu Dawud. „Ich möchte nur eines – meinen Kindern warmes Brot geben“, sagt die 29-Jährige der Deutschen Presse-Agentur. Ihr 14-jähriger Bruder sei vor drei Monaten bereits an den Folgen seines Hungers gestorben. Ärzte hätten der Familie gesagt, dass seine Organe wegen Unterernährung versagt hätten. Die Angaben der Palästinenserin, die in Deir al-Balah im Zentrum des Gazastreifens lebt, können nicht unabhängig überprüft werden.
Ein Mann namens Mohammed Dschudi sagt, er habe seit Beginn des Gaza-Kriegs nach dem Hamas-Massaker im Oktober 2023 rund 30 Kilogramm abgenommen. Früher habe er mal 84 Kilogramm gewogen. Ihm sei nun ständig schwindelig, sagt der Vater von fünf Kindern. Seine sechsjährige Tochter verliere wegen der Mangelernährung allmählich ihre Haare. „Wir sterben still und leise“, so der 37-Jährige, dessen Äußerungen sich ebenfalls nicht unabhängig überprüfen lassen.
Viele Anwohner des Gazastreifens erzählen, dass sie von nur einer Mahlzeit am Tag lebten. Lebensmittel auf den Märkten seien völlig überteuert. Es gebe dort auch kaum mehr etwas zu kaufen. Die Menschen sind deshalb auf Hilfslieferungen angewiesen, von denen es aus ihrer Sicht viel zu wenige gibt.
Anwohner berichten zudem von Gewalt und Chaos bei der Ausgabe von Hilfspaketen. Wenn Hilfe komme, verbreite sich die Nachricht per Mundpropaganda oder über die sozialen Medien. Mohammed Salem sagt, viele Menschen machten sich dann auf den Weg: „Es könnte das einzige Essen sein, das man in der Woche bekommt.“ Er berichtet, wie einmal Männer in der Menge geschubst und ein Junge deshalb zusammengebrochen sei. „Die Leute sind einfach über ihn rüber gestiegen.“ Was aus dem Jungen geworden sei, wisse Salem nicht. Wer schwach oder alt sei, gehe im Kampf um Hilfsgüter leer aus, sagt der 41-Jährige.
Nach Angaben des UN-Menschenrechtsbüros sind bereits mehr als 1.000 Menschen umgekommen, als sie versuchten, an Lebensmittel zu kommen. 766 seien nahe den umstrittenen Verteilzentren der Gaza Humanitarian Foundation (GHF) getötet worden, andere in der Nähe von Hilfskonvois, die oft von Verzweifelten gestürmt werden, sagte Sprecher Thameen Al-Kheetan.
Die 28-jährige Hiba al-Chatib berichtet, vor Kurzem habe ihr ein Mann seinen Ellenbogen hart in die Brust gerammt und ihr dann eine Kiste mit Essen gestohlen. Sie sagt, es sei ein Hilfspaket der GHF gewesen. Die Fahrer würden die Pakete einfach hinwerfen und dann wegfahren, niemand sei da, um sie zu verteilen, sagt die junge Frau. Andere Anwohner aus dem Gazastreifen bestätigen diese Schilderungen. Die Stiftung äußerte sich auf Anfrage nicht dazu.
„Nicht einmal Tiere würden so behandelt werden“, sagt al-Chatib. In den Kisten befänden sich etwa Reis, Kichererbsen, Milchpulver, Öl und Bohnen aus der Dose. Ein Paket reiche für ihre sechsköpfige Familie vier Tage lang, sagt die junge Frau. Ihre Familie koche und esse nur einmal am Tag.
„Jeden Tag sterben Menschen aufgrund fehlender humanitärer Hilfe, und wir beobachten, wie sich diese Situation von Tag zu Tag verschärft“, sagte Ross Smith, Direktor für Noteinsätze beim WFP, Anfang der Woche in New York. „Die Unterernährung nimmt rapide zu“, teilte die Organisation diese Woche mit. „90.000 Frauen und Kinder benötigen dringend medizinische Behandlung.“
Die „Times of Israel“ zitierte jüngst einen ranghohen israelischen Sicherheitsbeamten, wonach das Militär keine „Hungersnot“ in Gaza festgestellt habe. Er sagte dem Bericht zufolge aber, dass es Maßnahmen brauche, um die humanitäre Lage dort zu stabilisieren.
Im Gazastreifen gebe es zwar Hunger, sagte ein israelischer Regierungssprecher am Mittwoch. Daran sei aber nicht Israel Schuld. Die Hamas versuche, die Verteilung von Hilfsgütern an die Bevölkerung zu verhindern und kapere Hilfstransporter und verkaufe sie zu horrenden Preisen an Händler weiter und bezahle davon ihre Kämpfer.
Ein weiteres Problem sei dem israelischen Regierungssprecher zufolge, dass die UN Lastwagen, die bereits im Gazastreifen seien, nicht abholten und zu den Menschen brächten. Die UN weisen dies zurück. Vielmehr erhielten sie selten Erlaubnis zur Einreise von Hilfstransportern.
Von Mitte Mai bis Mitte Juli seien mehr als 1.600 Lastwagen mit UN-Hilfsgütern genehmigt worden und hätten verteilt werden können. Das seien nicht einmal 30 Lastwagen pro Tag. Um die grundlegendsten Bedürfnisse zu decken, sind laut dem UN-Nothilfebüro (OCHA) aber mehr als 600 bis 650 pro Tag nötig. Ein israelischer Regierungssprecher sagte, zwischen dem 19. und 22. Juli seien mehr als 4.400 Lastwagen mit Hilfsgütern in den Gazastreifen gefahren.
Die der von der Hamas kontrollierte Gesundheitsbehörde im Gazastreifen meldete, in den vergangenen 24 Stunden seien zehn Menschen an den Folgen von Hunger gestorben. Insgesamt seien deshalb bereits 111 Palästinenser ums Leben gekommen. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen.
Für die Erklärung einer Hungersnot haben die Vereinten Nationen feste Richtlinien. Sie wird erklärt, wenn mindestens zwei von 10.000 Menschen täglich durch Nahrungsmangel sterben, wenn mindestens 20 Prozent der Haushalte extremen Nahrungsmangel haben und wenn mindestens 30 Prozent der Kinder an akuter Unterernährung leiden. Im Gazastreifen ist angesichts der anhaltenden israelischen Angriffe und der ständigen Vertreibungen der Bevölkerung allein die Prüfung dieser Kriterien schwierig, so die UN.
In Israels Küstenmetropole Tel Aviv protestierten am Dienstagabend laut der „Times of Israel“ Tausende bei einem Marsch durch die Stadt gegen den Gaza-Krieg. Demonstranten hätten dabei auch Fotos von Kindern aus dem Gazastreifen, die an den Folgen von Hunger gestorben sein sollen, gezeigt. Die Teilnehmer des Marschs trugen demnach auch Mehlsäcke, um auf die Not im Gazastreifen aufmerksam zu machen.
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