Das Meer wiegt sich auf und nieder. Sieben Tänzerinnen des Hamburg Balletts mit langen, kobaltblauen Röcken schreiten langsam voran. „Beugt Euch noch etwas weiter nach vorn. Ja, das ist es“, sagt John Neumeier und zeigt sich zufrieden.
In der nächsten Szene tanzen der Erste Solist Alexandr Trusch in blau-weißem Ringelshirt als Odysseus und die Solistin Olivia Betteridge in einer hellen Jeanshose als Göttin Kalypso ein inniges Pas de deux, das zu Herzen geht. Sie hält ihn, den vom Trojanischen Krieg gezeichneten Helden und will ihn mit ihrer Liebe umfangen. Er ist zunächst noch unsicher, ob er das zulassen kann. Doch dann verschmelzen beide zu einer Einheit. „Das ist es. Wunderschön“, lautet der Kommentar von John Neumeier.
Auch wenige Tage vor seinem 85. Geburtstag steht Hamburgs Ballettchef John Neumeier im Saal. Wie könnte es auch anders sein. „Ich muss immer in Bewegung bleiben“, sagt der Jubilar, dem man sein Alter nicht ansieht und der sich zu seinem Geburtstag am 24. Februar die Wiederaufnahme seines Balletts „Odyssee“ nach dem Epos des griechischen Dichters Homer gewünscht hat. Das Werk über Krieg, Heimatsuche, das Unterwegssein und die Begegnung mit der Fremde war 1995 auf Einladung des Athener Opern- und Konzerthauses Megaron entstanden.
Aber es wird Neumeiers vorletzte Neueinstudierung als Leiter des Hamburg Balletts sein. Am 30. Juni zum Beginn der 49. Hamburger Ballett-Tage verabschiedet sich Neumeier mit der Uraufführung seines Balletts „Epilog“.
„Irgendwann muss man loslassen. Welche Gefühle ich wirklich in dem Moment habe, wo es nicht mehr meine Compagnie ist, das kann ich nicht sagen“, sagt Neumeier im Interview mit der Deutschen Presse-Agentur. Und man merkt ihm doch schon jetzt an, wie schwer ihm diese Worte fallen. Das Hamburg Ballett ohne John Neumeier - das kann sich noch niemand vorstellen.
Seit 1973 leitet der gebürtige Amerikaner das Hamburg Ballett und brachte es mit seiner einzigartigen Handschrift zwischen visionärem Tanz und klassischer Ballett-Tradition zu Weltruhm. Mit nur 30 Jahren war er bereits jüngster Ballettchef Deutschlands, damals noch in Frankfurt am Main. Heute ist er dienstältester Ballettdirektor der Welt.
Doch im Sommer ist tatsächlich Schluss - zumindest als Intendant. Dann übernimmt der 38-jährige Deutsch-Argentinier Demis Volpi die Leitung des Hamburg Balletts. Das Repertoire von John Neumeier wird aber weiter zu sehen sein - einstudiert von den zahlreichen Ballettmeistern, allen voran Neumeiers Stellvertreter Lloyd Riggins.
Natürlich hört John Neumeier nicht auf zu choreografieren. Das wäre auch schwer vorstellbar, denn Tanz ist sein Leben. „Der Terminkalender ist gefüllt bis 2027“, sagt er mit einem Lächeln im Gesicht. Wie schon als Intendant des Hamburg Balletts werde er mit anderen Compagnien zusammenarbeiten - darunter jenen aus Houston (USA), Melbourne (Australien), Prag (Tschechien) und Dresden, Stuttgart und München. „Aber diesmal brauche ich kein schlechtes Gewissen mehr meiner eigenen Compagnie gegenüber zu haben“, sagt der Choreograf.
Auch mit dem Hamburg Ballett werde er weiter verbunden bleiben, zum Beispiel beim Festival „The World of John Neumeier“ vom 26.9. bis 13.10. in Baden-Baden. Und wer weiß, vielleicht wird es auch noch ein neues Werk in Hamburg geben. „Wenn ich eingeladen werde? Ich werde es überlegen“, gibt sich John Neumeier geheimnisvoll.
Nach 51 Jahren kann man sich die Hamburger Kulturszene ohne John Neumeier kaum vorstellen. „Er schaffte es, die immer noch zurückhaltenden Hamburger für den Tanz zu begeistern, seine Compagnie zu weltweitem Erfolg zu führen und das Hamburg Ballett international bekannt zu machen“, sagte Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) beim Empfang zum 50-jährigen Jubiläum im Festsaal des Rathauses.
Neben zahlreichen internationalen Auszeichnungen ist Neumeier seit 2007 auch Hamburger Ehrenbürger, eine äußerst selten verliehene Anerkennung. Neumeier selbst sagt, er sei immer in Hamburg geblieben - „weil es immer weiter ging“. 1978 wurde die Hamburger Ballettschule eröffnet, 1989 das Ballettzentrum mit angeschlossenem Internat und 2011 das Bundesjugendballett gegründet, dessen Intendant er weiterhin bleiben wird.
Dabei hatte es der am 24. Februar 1939 in Milwaukee geborene Sohn eines Kapitäns und einer polnischen Mutter nach Stationen in New York, London, Stuttgart und Frankfurt am Anfang nicht leicht in Hamburg. Erst langsam eroberte er die Herzen der Hanseaten.
Die erste Ballett-Werkstatt, eine Art öffentliches Training, habe das Eis gebrochen: „Ich hatte auf einmal meinen Text vergessen, entschuldigte mich, und während ich meine Notizen suchte, wurde ich vom warmen Applaus des Publikums überrascht“, erinnert sich Neumeier.
Bei der ersten Ansprache an seine Compagnie habe er gesagt: „Ich möchte eine Compagnie mit einem unverwechselbaren Gesicht.“ Das ist ihm auf jeden Fall gelungen. Man darf gespannt sein, wie es weitergehen wird. Als Hamburger fühlt sich John Neumeier mittlerweile auf jeden Fall: „Hamburg ist schon meine Heimat.“
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