Im Rollstuhl wird die Seniorin in den Gerichtssaal geschoben, vors Gesicht hält sie einen Aktenordner: Im Streit um das Aufräumen von Einkäufen soll die heute 90 Jahre alte Seniorin ihre 77-jährige engste Freundin mit einem Kochtopf geschlagen und tödlich verletzt haben. Die Seniorin ist wegen Mordes angeklagt und sitzt seit der Tat im vergangenen Sommer in Untersuchungshaft.
Die Verlesung der Anklage vor dem Landgericht München I verfolgte die Frau ohne sichtbare Regung. Zu den Vorwürfen äußerte sie sich nicht. Doch die Sache, so ihr Anwalt Johannes Makepeace, lasse sie keineswegs kalt. Er sieht in der Tat keinen Mord.
Mehr als 40 Jahre waren die älteren Damen, beide inzwischen schon gesundheitlich beeinträchtigt, befreundet. Die Freundinnen, die darüber hinaus kaum andere Kontakte hatten, sahen sich fast täglich. Die Jüngere half der Älteren unter anderem beim Einkaufen.
So auch an jenem Tag Mitte Juli des vergangenen Jahres. Die beiden gingen wie so oft gemeinsam in den Supermarkt und besuchten danach eine Eisdiele, um gemütlich Eis zu essen. An der Wohnung der Älteren angekommen, half ein Nachbar noch, die Einkäufe in die Wohnung zu tragen.
Beim Aufräumen der Einkäufe kam es laut Anklagevorwurf zu der tödlichen Auseinandersetzung. Die damals 89-Jährige - so sagte sie selbst beim späteren Notruf bei der Polizei - bat ihre Freundin, nicht in die äußerst beengte Küche zu gehen. Die Freundin habe sich dem aber widersetzt - und prompt in der Küche mehrere Dinge, darunter einen Wasserkocher, zu Boden gestoßen, schilderte Staatsanwältin Simona Müller.
Die Seniorin soll laut Anklage daraufhin die 77-Jährige geohrfeigt haben. Als die Jüngere sich zur Wehr setzte, sei die Ältere - die in der Freundschaft das Sagen gehabt habe - in „unbändige Wut“ geraten, so die Anklägerin. Die Seniorin habe beschlossen, die Freundin „als Bestrafung“ zu töten, zu dem Kochtopf gegriffen und damit auf die Jüngere eingeschlagen.
Tage später wählte die Seniorin den Notruf. In der im Gericht vorgespielten Aufnahme des minutenlangen Telefonats mit der Polizei schilderte sie unter anderem, die Freundin habe nach dem Streit in der Küche bleiben wollen, aber weder Polizei noch ärztliche Hilfe gewollt. Später sei sie tot gewesen.
In der Wohnung fanden die Beamten die Tote mit Spuren von Gewalteinwirkungen und nahmen die Seniorin fest. Sie sei gefasst gewesen, habe aber auch gezittert, schilderte ein Polizeibeamter. Sie habe auch geäußert, dass sie mit der Situation überfordert gewesen sei und überlegt habe, ob sie vor einen Lastwagen laufen solle.
Grundsätzlich gibt es am Tathergang wenig Zweifel, auch nicht seitens der Verteidigung. Anwalt Makepeace, der mit seiner Kollegin Annette von Stetten die Verteidigung übernommen hat, sieht aber keinen Mord. Es sei zu gegenseitigen Handgreiflichkeiten gekommen, unterstreicht der Anwalt. Die Herausforderung in dem Prozess werde sein, den genauen Tathergang zu rekonstruieren.
Der Verteidiger kritisierte eine unzureichende Belehrung seiner Mandantin durch Polizeibeamte, insbesondere bei einer Vernehmung nach dem Notruf. Die Seniorin sei - nach seiner Auffassung widerrechtlich - ohne Anwalt mitten in der Nacht gegen 00.15 Uhr ohne Anwalt vernommen worden. Die Vernehmung dürfe nicht verwertet werden, sagte Makepeace. Sie wurde zunächst nicht in den Prozess eingeführt.
Makepeace äußerte erneut auch Unverständnis über die Untersuchungshaft für seine schwer geh- und sehbehinderte Mandantin. Eine Haftprüfung habe keine Änderung gebracht. Wie die alte Dame, die in bescheidenen Verhältnissen lebte und beim Gehen auf einen Rollator angewiesen ist, sich mit ihren körperlichen Einschränkungen auf die Flucht begeben sollte, „dafür fehlt mir die Fantasie“, sagte Makepeace. „Wo soll sie denn hinrollen?“
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