Nach fast einem Jahr Dauergefechten mehren sich erneut die Zeichen, dass der Konflikt zwischen Israel und der Hisbollah im Libanon zu einem offenen Krieg eskalieren könnte. Die Rückkehr der geflüchteten israelischen Bürger in ihre Wohnorte im Norden des Landes zählt nun - neben der Befreiung der Geiseln aus dem Gazastreifen und der Zerstörung der Hamas - zu Israels erklärten Kriegszielen.
Der einzige Weg dahin sei „ein militärischer Einsatz“, sagte Israels Verteidigungsminister Joav Galant am Montag nach Angaben seines Büros bei einem Treffen mit US-Vermittler Amos Hochstein. Die Möglichkeit einer diplomatischen Lösung im Konflikt mit der Hisbollah rücke immer weiter in die Ferne, weil die Miliz ihr Schicksal mit der Hamas im Gazastreifen verbunden habe und sich weigere, den Konflikt zu beenden.
Der Generalkommissar des UN-Palästinenserhilfswerks (UNRWA), Philippe Lazzarini, sagte nach einem Treffen im Libanon mit dem Außenminister Bou Habib, die Situation sei „sehr besorgniserregend“. Er hoffe zwar auf das Beste, man müsse sich aber auf das Schlimmste vorbereiten.
Seit Beginn des Kriegs im Gazastreifen zwischen Israel und der islamistischen Hamas vor fast einem Jahr kommt es im Grenzgebiet zwischen Israel und dem nördlichen Nachbarland Libanon nahezu täglich zu militärischen Konfrontationen zwischen der israelischen Armee und der Hisbollah.
Insgesamt mussten seither rund 60.00 Israelis ihre Häuser und Wohnungen in vielen Dörfern sowie der Stadt Kiriat Schmona im Norden Israels verlassen. Viele Betroffene leben seit Monaten in vom Staat bezahlten Hotels im Land. In mehreren Ortschaften im israelischen Grenzgebiet wurden Dutzende Häuser sowie Infrastruktur beschädigt. Das Militär ist in der Gegend schon immer präsent. Seit Beginn der Gefechte mit der Hisbollah gibt es dort aber etwa auch Kontrollpunkte der Armee auf von Zivilisten genutzten Straßen.
Auf beiden Seiten gab es Tote - die meisten von ihnen waren Mitglieder der Hisbollah. Erst am Dienstag wurden nach israelischen Angaben bei einem Angriff auf einen Ort im Südlibanon drei Hisbollah-Kämpfer getötet.
Die proiranische Schiitenmiliz handelt nach eigenen Angaben aus Solidarität mit der islamistischen Hamas im Gazastreifen. Sie will ihre Angriffe erst einstellen, wenn die „Aggressionen gegen Gaza und das palästinensische Volk“ aufhören. Unter Generalsekretär Hassan Nasrallah hat sie in der Vergangenheit mit Unterstützung aus Teheran ihren Einfluss stetig ausgebaut. Dieser reicht tief in den von Krisen gelähmten libanesischen Staat. Die Organisation kontrolliert vor allem den Süden an der Grenze zu Israel, von Schiiten bewohnte Viertel der Hauptstadt Beirut sowie die Bekaa-Ebene im Norden des Landes.
Die Hisbollah sieht sich auf „jegliches Szenario“ vorbereitet, wie es aus informierten Kreisen hieß. Quellen aus der Organisation sagten der Deutschen Presse-Agentur: „Unsere Kämpfer stehen seit dem 8. Oktober bereit. Unsere Anführer haben bei sämtlichen Anlässen betont, dass wir den Libanon beschützen werden.“
Beobachter gehen davon aus, dass es in naher Zukunft zu weiteren und womöglich größeren militärischen Zusammenstößen zwischen Israel und der Hisbollah kommen könnte. Das mögliche Ausmaß der Konfrontation sei jedoch unklar, sagte Riad Kahwaji, Direktor des Institute for Near East and Gulf Military Analysis (INEGMA), der dpa. Auch innerhalb der israelischen Regierung herrschten dazu Meinungsverschiedenheiten. Ein israelischer Einsatz mit Bodentruppen im Libanon ist nach Einschätzungen des politischen Analysten Makram Rabah wahrscheinlich. „Aber es ist eine Frage des Timings“, sagte er.
Der libanesische Parlamentssprecher und enge Verbündete der Hisbollah, Nabih Berri, erwartet keinen großangelegten, sondern eher einen limitierten Einsatz von israelischen Bodentruppen im Libanon. Der Zeitung „Al-Joumhouria“ sagte er, er gehe davon aus, dass Israel seine militärischen Aktionen zwar deutlich ausweiten werde, „allerdings, ohne dass es zu einem Versuch einer Invasion“ komme.
Die israelische Zeitung „Jerusalem Post“ meldete unter Berufung auf politische und militärische Kreise derweil, Israel sei einem umfassenden Krieg mit der Hisbollah näher als je zuvor. Grund dafür sei auch der „strategische Sieg“ über die Hisbollah Ende August. Damals hatte Israels Armee von einem bevorstehenden Angriff der Miliz erfahren und daraufhin Ziele im Südlibanon attackiert. Das Militär hat dabei israelischen Angaben zufolge Tausende Raketen zerstört, die auf den Norden Israels gerichtet gewesen seien.
Dies habe die Zuversicht von Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu erhöht, dass sich eine umfangreiche Militäroperation im Libanon mit geringeren Verlusten und Risiken als zunächst befürchtet realisieren lasse, schrieb die „Jerusalem Post“ weiter. Gewiss sei dies aber nicht, räumte das Blatt ein. Ein großangelegter Krieg sei für alle Seiten weiter riskant.
Israel will durch militärischen und diplomatischen Druck erreichen, dass sich die Hisbollah-Miliz wieder hinter den 30 Kilometer von der Grenze entfernten Litani-Fluss zurückzieht - so wie es die UN-Resolution 1701 vorsieht.
Unterdessen will sich US-Außenminister Antony Blinken bis Donnerstag bei einem Besuch in Ägypten für eine Wiederbelebung der Gespräche zur Beendigung des Gaza-Kriegs einsetzen. Ein Abkommen zwischen Israel und der Hamas über eine Waffenruhe scheint derzeit so gut wie ausgeschlossen. Israel will die islamistische Hamas in dem Krieg zerstören - doch immer wieder sterben auch unbeteiligte Palästinenser.
So gab es am Dienstag bei einem israelischen Angriff in dem Flüchtlingsviertel Al-Bureidsch im Gazastreifen nach Angaben des palästinensischen Zivilschutzes Tote und Verletzte. Insgesamt seien sechs Wohnhäuser betroffen. Eine genaue Zahl der Toten und Verletzten wurde zunächst nicht genannt.
Ägypten, Katar und die USA haben bisher monatelang erfolglos in dem Konflikt vermittelt. Die USA sind der wichtigste Verbündete Israels. Ein Besuch Blinkens dort ist Medienberichten zufolge derzeit aber nicht geplant. Nach Darstellung der US-Regierung soll so bald wie möglich ein neuer Vorschlag für eine Waffenruhe vorgelegt werden.
Ägypten gehört mit Israel und der Ukraine zu den größten Empfängern von Militär- und Wirtschaftshilfen der USA weltweit. Wegen der schlechten Lage der Menschenrechte in Ägypten hatte die US-Regierung diese Zahlungen in vergangenen Jahren teils zurückgehalten. Wegen Kairos Bemühungen um eine Vermittlung im Gaza-Krieg habe Washington dieses Jahr aber entschieden, die 1,3 Milliarden US-Dollar an Militärhilfen in vollem Umfang zu zahlen, berichtete die „New York Times“.
© dpa-infocom, dpa:240917-930-234511/4