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Veröffentlicht am 13.10.2022 04:20

Mit Waldbaden die Kraft der Bäume spüren

Den Boden berühren, das Moos, die Gräser: Den Wald mit allen Sinnen spüren - auch darum geht es. (Foto: Andreas Drouve/dpa-tmn/Archivbild)
Den Boden berühren, das Moos, die Gräser: Den Wald mit allen Sinnen spüren - auch darum geht es. (Foto: Andreas Drouve/dpa-tmn/Archivbild)
Den Boden berühren, das Moos, die Gräser: Den Wald mit allen Sinnen spüren - auch darum geht es. (Foto: Andreas Drouve/dpa-tmn/Archivbild)

Der Rucksack ist gepackt: Sitzkissen, Spiegel, Stifte, Papier, Passepartouts, Becher, eine Thermoskanne. Vor dem Aufbruch geht Walderlebnistrainer Peter Heck seine Checkliste durch. Auf einem Parkplatz am Rand von Pfronten trifft er sich später mit einem Urlaubergrüppchen. Gemeinsam marschiert man hinauf ins Grün des Allgäu. „Wald beruhigt, reduziert Stress“, sagt der 59-Jährige. Er hat an einem Baumstumpf gestoppt, den er „Waldgarderobe“ nennt.

Dort animiert er die Teilnehmer, symbolisch Ängste und Sorgen abzulegen und befreit hineinzugehen in ein Forststück, das vollkommen beliebig erscheint - es aber nicht ist.

Warum, das kann Julia Fricke von der lokalen Tourismusgesellschaft erklären: „Bei der Suche nach einem geeigneten Wald wurde besonderes Augenmerk darauf gelegt, dass dieser möglichst unberührt ist und über die richtige Atmosphäre verfügt.“ Auch die Abstimmung mit Förstern, Waldbesitzern und Jägern sei „recht zeitintensiv“ gewesen.

Bei Pfronten Tourismus ist Waldbaden neuerdings als begleitetes Outdoor-Erlebnis im Angebot, womit der Ort am Alpenrand nicht allein ist. Auch andere Tourismusregionen in Deutschland greifen den Trend des Waldbadens auf, der aus Japan hinüber geschwappt ist.

Urschreie? Fehlanzeige

„Zum Waldbaden braucht man keine Badehose und kein Handtuch“, beugt Andrea Schlenkermann Missverständnissen vor. In Pfronten zählt die 62-Jährige zum Team der zertifizierten Walderlebnistrainer und wendet sich gegen Stimmen, die Waldbaden ins Lächerliche ziehen: „Wir lassen keine Urschreie los. Und wir umarmen keine Bäume, aber wir fassen sie an und spüren die Ruhe.“

Einfach mit dem Rücken an einen Stamm lehnen. Bewusst die frische Luft einatmen. Die Heilkraft der Natur mit allen Sinnen in sich aufnehmen. Das und viel mehr ist Waldbaden, bei dem man laut Andrea Schlenkermann „nichts bewerten“ solle. „Erde dich, zentriere dich, nimm wahr“, lautet ihre Gebrauchsanweisung. Was sie beobachtet: „Manche Teilnehmer verlieren sich dabei in Raum und Zeit.“

Begibt man sich auf eine begleitete Tour, besteht das Bad im Wald aus einer Abfolge von Übungen, die Entspannung verheißen und die Achtsamkeit verstärken. Das Umfeld erscheint auf den ersten Blick banal, altbekannt. Skeptiker mögen fragen, was es Neues im Wald zu entdecken gibt, in dem sie schon oft gewesen sind.

Doch Waldbaden unter Anleitung verwandelt das scheinbar Gewöhnliche ins Ungewöhnliche, sorgt für andere Herangehens- und Betrachtungsweisen. Zudem nimmt man sich im Kosmos Wald für etwas Zeit, die man oft nicht zu haben glaubt.

Die Welt auf dem Kopf

Zu Beginn verteilt Peter Heck Sitzkissen und ermuntert dazu, die Umgebung von einem beliebigen Platz aus zu ertasten. Wie fühlt sich der Boden an, das Moos, ein Stück herabgefallene Rinde, ein Fichtenzapfen? Geschlossene Augen verstärken das Erlebnis. Vögel zwitschern im Hintergrund. Der Wind rauscht durch Buchen- und Ahornblätter. Dass sich plötzlich der Lärm eines fernen Traktors hineinmischt, muss man bei dem, was wir Zivilisation nennen, schlucken.

Eine andere Übung besteht darin, mit einem Spiegel vor den Augen den Wald zu erkunden: ganz langsam gehend, bei Bedarf von einem Mitteilnehmer gestützt, den Blick himmelwärts auf Astwerk und Kronen gerichtet. „Die Welt auf dem Kopf haben“, sagt Peter Heck dazu. Der perspektivische Wechsel versetzt in einen Flow, wenn man wie ein Schreitvogel über den weichen Untergrund stakst. Wer dabei die Arme wie Flügel ausbreitet, stellt Konzentration und Gleichgewichtssinn auf die Probe.

Und weitere von Hecks Utensilien kommen zum Einsatz: Kunst im Wald schaffen und den Blick für die Details schärfen, das gelingt mit den ausgegebenen Passepartouts. Da rahmt man eine Wurzel ein, einen Zweig, Totholz, Gräser, Borke. „Ankerbilder“ nennt er das. Fasziniert betrachten die Teilnehmer die Strukturen, Farben, Symmetrien, Asymmetrien, Licht-und-Schatten-Spiele.

Stärker in Aktion tritt, wer mit Wachsmalstiften die Konturen eines Stücks Rinde auf ein Papier abpaust. Später hängt Heck die Werke mit Klammern an eine Leine - der Wald als temporäre Kunstgalerie. Zum Schluss gibt er seinen Gästen Zeit, die Eindrücke zu verarbeiten, und bittet mit Bechern und Thermoskanne zur „Teezeremonie“. Der hausgemachte Fichtenspitzentee schmeckt köstlich. Das ist ein Waldbad für den Gaumen, wenn man so will.

Erfahrungen in den Alltag tragen

„Waldbaden ist bei den Buchungen der Gäste bislang noch kein Selbstläufer, wie beispielsweise Yoga oder geführte Wanderungen“, sagt Julia Fricke von Pfronten Tourismus. Manchmal gebe es nur wenige Anmeldungen, doch Waldbaden werde bekannter. „Und von den Gästen, die teilgenommen haben, erhalten wir durchweg tolles Feedback.“

Walderlebnistrainer Peter Heck genießt jeden Termin: „Obwohl ich selber der Akteur bin, habe ich die Gelegenheit runterzukommen, was ich bei mir zu Hause nie schaffe. Wenn ich im Wald bin, kreisen die Gedanken nirgends.“ Für seine Kollegin Andrea Schlenkermann ist wichtig, dass man die Erfahrungen idealerweise in den Alltag hinein trägt. Die Ankerbilder etwa könne man sich in Stresssituationen ins Gedächtnis rufen: „Da spürt man Ruhe und Gelassenheit.“

Begleitetes Waldbaden im Urlaub kann der Beginn einer neuen, intensiven Verbindung sein und dient gleichzeitig als Anleitung zum Selbermachen - im Wald nach eigener Wahl und zum Nulltarif.

© dpa-infocom, dpa:221012-99-102218/3

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