Jubel brandet auf, als ein sehr agiler älterer Herr in weißem Hemd und weißer Hose am Samstagabend die Riesenbühne auf dem Hamburger Rathausmarkt betritt. „Meine Welt ist Tanz“, sagt er mit melodischer Stimme. Und lädt 3500 Zuschauer auf Sitz- und zahllose auf Stehplätzen zu einer hoch ästhetischen Reise durch 50 Jahre seines, John Neumeiers, Schaffens ein.
Sogleich kommt eine Schar junger Tänzer und Tänzerinnen in pastellfarbenen Kostümen auf die Spielfläche, überschäumende Lebenslust verkörpernd. Voller beseelter Dynamik, mit fabelhaft präzisen Sprüngen, Drehungen und Hebungen interpretieren sie die Candide-Ouvertüre aus Neumeiers „Bernstein Dances“ von 1998 zu prachtvoll brausenden Klängen des Philharmonischen Staatsorchesters.
Das Tanzfeuerwerk unter dem Titel „The World of John Neumeier“ ist - bei freiem Eintritt - ein Abschiedsgeschenk des 83-Jährigen Amerikaners aus Milwaukee (Wisconsin) an die Fans seiner Kunst. Die Saison 2022/2023 markiert das 50-jährige Jubiläum des Ballettdirektors und Chefchoreografen an der Staatsoper - zugleich wird es seine letzte sein.
Wenngleich Neumeier der Hansestadt als Intendant des von ihm geschaffenen Bundesjugendballetts und freischaffender Choreograf erhalten bleibt. 1973 hatte der damalige Intendant August Everding den Tänzer an die Alster geholt. Und der führte die Compagnie mit klassisch modernen Inszenierungen zumal von Handlungsballetten auch dank vieler Tourneen zu Weltruhm.
„John Neumeier hat Ballettgeschichte geschrieben“ würdigte vor Beginn des zweistündigen Abends denn auch Hamburgs Erster Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) das einzigartige Wirken des Künstlers, der seit 2007 Ehrenbürger der Stadt ist. Zehn markante und vielfältige Stationen aus fünf Jahrzehnten Arbeit des international dienstältesten Ballettdirektors erlebt sodann das nach jedem Auftritt begeistert applaudierende Publikum.
Mit der Abfolge erzählt der Meister aus dem Off aus seinem Leben - wie er wurde, was er ist und wer ihn geprägt hat. Dazu agiert sein 1994 geborener Landsmann und Erster Solist des Ensembles, Christopher Evans, ebenfalls in weißem Hemd und weißer Hose als junges Alter Ego Neumeiers.
Von „Der Nussknacker“ (1971, Frankfurt/Main) über „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“, „Die Kameliendame“ (Stuttgart), „Shall we dance“, „Opus 100 - For Maurice“ (Lausanne), „Nijinsky“, „Tod in Venedig“, „Weihnachtsoratorium“ bis zu „Ghost Light“ (2020) spannt sich der Bogen. Liebe und Krieg, Glaube und Wahn werden zu Polen der Existenz. Denn Ballett ist, wie Neumeier es formuliert, kein virtuoser Hochleistungssport. „Der Tanz ist eine Kunstform, die die Seele des Menschen spiegelt“, erklärt er aus dem Hintergrund. Und wie facettenreich diese Seele ist, zeigt auch die Auswahl seiner Szenen.
Die schwarz-weiße Eleganz amerikanischer Musicalfilme mit Neumeiers lebenslanger Inspiration Gene Kelly (1912-1996) hat darin genauso ihren Platz wie das Leid seines polnisch-russischen Vorbilds Vaslav Nijinsky (gestorben 1950), der nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs 1919 in der Schweiz einen Nervenzusammenbruch erlitt.
Natürlich gilt auch für Neumeier, dass Ballett, „die ideale Kunstform ist, um die Formen der Liebe zu zeigen.“ Innige Romantik pur, traumverloren und von bittersüßer Melancholie umwölkt, zeigt sich dabei etwa der Pas de deux von Armand und Marguerite aus „Die Kameliendame“.
Und es heißt an diesem Abend in Hamburg auch „Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage“. Denn mit dem Bachschen Oratorium hat Neumeier dem christlichen Glauben tänzerisch Ausdruck verliehen. Am Ende, unter dem donnernden Applaus der Zuschauer, wird der 83-Jährige von seiner Compagnie buchstäblich auf Händen getragen.
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