Vor wenigen Minuten noch haben wir vor atemberaubender Bergkulisse im Freibad von Telfs geplanscht. Nun liegt der Tiroler Ort weit unter uns. Still ist es und der weite Blick ins Inntal unglaublich schön.
Für die Nacht werden wir mit unserem Wohnmobil hier am Ropferhof an der Hohen Munde bleiben und über der dunklen Silhouette des Bergmassivs Myriaden Sterne und das Band der Milchstraße sehen. Und das nahezu exklusiv: Nur ein Paar aus Meinerzhagen steht mit seinem Camper neben uns am Berg - und ein paar Pferde, Esel und Schafe.
Wir sind mit dem Anbieter „Landvergnügen“ unterwegs: Nicht Campingplätze oder von Gemeinden angebotene Stellplätze sind unser Ziel, sondern Bauern- und Gasthöfe, Weingüter, Straußenfarmen und andere regionale Produzenten. Ein Dutzend Gastgeber steuern wir an, jeden Tag einen neuen.
Da jeweils maximal drei Stellplätze angeboten werden, ist es selbst jetzt in der sommerlichen Hochsaison nie überfüllt. Oft sind es nur wir, die im Schatten eines Walnussbaums, am Lavendelfeld oder mit Bergkühen als Nachbarn die Landschaft genießen.
Das Konzept stammt aus Frankreich, wo es mit „France Passion“ schon lange möglich ist, die regionale und kulinarische Vielfalt des Landes auf diese Weise kennenzulernen. Nach einer Reise dort war Ole Schnack begeistert von der Idee - 2014 war sein erster „Landvergnügen“-Führer fertig.
Der große Boom kam mit der Corona-Pandemie, als Flugreisen kaum möglich waren und sich etliche Menschen Wohnmobile oder Wohnwagen zulegten. Im Jahr 2022 listete das „Börsenblatt“ des Deutschen Buchhandels „Landvergnügen“ unter den Top Ten der beliebtesten Reiseführer. Anfang April dieses Jahres waren in Deutschland erstmals mehr als eine Million Wohnmobile beim Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) registriert. Ihre Zahl hat sich demnach in den vergangenen Jahren mehr als verdoppelt. Hinzu kommen etliche Wohnwagen.
Die Zahl der „Landvergnügen“-Gastgeber sei zwar nicht in gleichem Maße gewachsen, es gebe aber auch in der Hauptsaison immer ausreichend Kapazitäten - wenn nicht gerade ein Hotspot wie Rügen das Ziel sei, sagt Ole Schnack. Er empfiehlt ohnehin, Höfe abseits üblicher Touristenregionen und der Hauptverkehrsadern anzusteuern. „Sich treiben lassen, den Weg zum Ziel zu machen, das macht gerade den Charme dieser Art des Reisens aus.“
Österreich ist seit 2024 Teil des Netzwerkes, in diesem Jahr lassen sich erstmals auch Gastgeber in der Schweiz ansteuern. Das Prinzip ist einfach: Camper erwerben eine Jahresmitgliedschaft und können dafür kostenlos bei derzeit etwa 1.500 Gastgebern in Deutschland, etwa 600 in Österreich und etwa 40 in der Schweiz übernachten. Reserviert wird einige Tage im Voraus digital über die App oder telefonisch am Tag oder auch erst Stunden vor der Anreise. Die Gäste erhalten authentische Einblicke ins Landleben, die Höfe profitieren von zusätzlichem Umsatz durch Einkäufe im Hofladen.
Unsere Kinder überlegen vor jeder Ankunft auf einem neuen Hof auf unserer Strecke, welche Tiere sie wohl diesmal am niedlichsten finden werden. Am Ende werden es viele Dutzend Kätzchen, Hunde, Schafe, Kühe, Ziege, Pferde, Lamas und Esel sein, die gekrault wurden. Auf den Tisch kamen verschiedene Leckereien aus diversen Hofläden - zum Beispiel Tiroler Schlutzkrapfen, die Spezialität Creux-du-Van der Käserei Fromagerie de Provence im Schweizer Kanton Vaud sowie Walliser Aprikosen, ganz frisch vom Baum.
Vor allem aber treffen wir Menschen, die uns teilhaben lassen am Hofleben. Besonders herzlich ist der Empfang auf dem Biohof Höfle im österreichischen Dornbirn oberhalb des Bodensees, wo fünf Mini-Kätzchen und der unermüdlich apportierende Hofhund Lupo um die Gunst der Kinder wetteifern.
Wie Petra Höfle schon angekündigt hat, als wir uns ein paar Stunden zuvor telefonisch angemeldet haben: Es ist gerade mächtig was los. Tierfutter wird von den Feldern geholt, ein schwer bepacktes Traktorgespann nach dem anderen rollt auf den Hof. Am Abend wird gefeiert - mit Livemusik. Die Männer singen, begleitet vom Spiel eines Akkordeons, regionale Volksweisen. Ein Gänsehautmoment.
Die längst in den Stall gebrachten Hühner gucken versonnen aus dem Fenster und selbst die Kühe scheinen hier die Schönheit des Sonnenuntergangs über dem Bodensee zu genießen.
Nach einem Abstecher in die nahe Rappenlochschlucht mit ihren malerischen Wasserfällen geht es für uns am nächsten Tag weiter in die Schweiz.
Dort, am Biohof Weisserlen, ist es die Flusslandschaft des Sihl an der Grenze der Kantone Zug und Zürich, die uns begeistert. Von sanft gerundeten Hügeln - Drumlins genannt - umgeben, tut sich eine waldumstandene Schlucht auf, durch die der Sihl brodelt. Auf dem Biohof ist das Bimmeln der Glocken zu hören, die die Kühe hier wie im Allgäu um den Hals tragen - und das Gackern Hunderter Hühner, die in einem riesigen Gehege scharren und auf eigens aufgetürmtem Astwerk ruhen.
Wie so oft würden wir gern noch bleiben. Zugleich locken neue Abenteuer. Wir hüpfen auf Durchreise in den Vierwaldstättersee, kurz darauf schnauft das Wohnmobil den Furkapass hoch zum Rhonegletscher. Entlang der Alpengipfel gibt es kaum Angebote, erst in der Rhonetalebene im Kanton Wallis mehrt sich die Zahl der Gastgeber wieder - deshalb fahren wir diesmal vier Stunden, statt die Fahrzeit wie sonst meist auf ein bis zwei Stunden zu begrenzen.
In der von Bergmassiven umgebenen Talebene übernachten wir umgeben von Obstplantagen als Gäste der Domaine Philfruits, die saisonales Obst und Gemüse in einem vielbesuchten Hofladen verkauft.
Gerade ist Aprikosen-Saison - und das Wallis ist die mit Abstand bedeutendste Region für den Aprikosenanbau in der Schweiz. Wir testen die traditionelle Aprikosensorte „Luizet“, die wenig transportfähig und darum kaum im Handel zu finden ist. Klein sind die Früchte, haben aber viel Aroma. Ohne „Landvergnügen“ hätten wir diese weit von der Haupstraße abgelegene Plantage vermutlich nie entdeckt.
Und genau das macht für uns einen entscheidenden Reiz dieser Art des Reisens aus: Orte besuchen, die man als normaler Tourist kaum zu sehen bekommt. Mit Menschen der Region über ihre Arbeit und ihren Alltag reden. Authentische Erfahrungen statt Massentourismus. Ruhe statt Campingplatztrubel. Und Kindern lässt sich wunderbar vermitteln, woher Nahrungsmittel kommen, wenn die Kuh, von der Milch und Käse auf dem Tisch stammen, direkt neben ihnen grast.
Klar muss Nutzern dabei sein, dass sie nicht zwingend die Ordnung prämierter Campingplätze erwartet. Auf Höfen können auch mal Fliegenschwärme unterwegs sein oder frühmorgens die ersten Trecker lärmen.
Wir haben unterwegs Reisende kennengelernt, die schon seit drei Wochen und zum wiederholten Mal mit „Landvergnügen“ unterwegs waren. Andere nutzten die Mitgliedschaft für Zwischenstopps - eine Schweizer Familie auf dem Weg zur Ostsee zum Beispiel und ein niedersächsisches Paar mit Hund unterwegs nach Italien.
Alle waren sie angetan vom Konzept - was aber nicht generell der Fall ist, wie Beiträge etwa in Wohnmobil-Foren zeigen. Einige mögen es demnach nicht, dass vielfach nur kurzfristig einen Tag im Voraus reserviert werden kann, andere fühlen sich von der Empfehlung, vor Ort etwas zu kaufen, unter Druck gesetzt. Manche Camper suchen als Alternative zu Campingplätzen darum bei Anbietern wie „Staybetter“, „Hinterland“ oder „AlpacaCamping“ lieber Stellplätze, die sich zum Beispiel zum festen Preis oder für mehrere Tage buchen lassen.
Uns aber bleiben die Freude über herzliche Begegnungen, das Gefühl, Land und Leute wirklich kennengelernt zu haben - und mitgebrachte Dinge wie Most, Honig und Wein, die uns noch eine ganze Weile an die Höfe und Erlebnisse erinnern werden.
Geeignet für: Reisen mit Reisemobil, Wohnwagen, Campingbus oder Dachzelt. Hunde sind bei etwa 80 Prozent der Höfe willkommen.
Kosten: Die personengebundene „Landvergnügen“-Jahresmitgliedschaft kostet derzeit 69,90 Euro. Die Übernachtung ist auf allen Höfen kostenlos, für Serviceleistungen wie Strom, Wasser, WC und Duschen kann eine Gebühr anfallen. Empfohlen wird als Dankeschön ein Einkauf im jeweiligen Hofladen oder Besuch des Gasthofes.
Unterkunft: Zu den Anbietern gehören vor allem Bauernhöfe im weiteren Sinne, darunter Brauereien, Käsereien, Winzer, Imker, Kräuter- und Straußenfarmen. Auch ländlich gelegene Gasthöfe bieten Stellplätze an, in der Schweiz sind zudem ein Zoo, ein Schwimmbad und ein Museum für Musikautomaten dabei.
Zu beachten: Maximal eine Übernachtung ohne Verlängerung ist drin. Nur Dachzelte, keine anderen Zeltarten sind erlaubt. In Tirol gibt es aufgrund besonderer gesetzlicher Bedingungen vergleichsweise wenige „Landvergnügen“-Gastgeber. In der französischen Schweiz sind Französisch-Kenntnisse von Vorteil.
Weiterführende Informationen: https://landvergnuegen.com
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