Patientinnen und Patienten mit akuten Beschwerden sollen künftig weit seltener in der Notaufnahme eines Krankenhauses behandelt werden. Ziel einer großangelegten Notfallreform von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) soll es sein, dass Hilfesuchende bereits am Telefon oder vor Ort im Krankenhaus verstärkt in eine nahe Praxis geschickt werden.
Viel stärker als bisher sollen Versicherte auch direkt telemedizinisch betreut werden. Insgesamt sei eine „große Reform“ geplant mit „einem unfassbar großen Potenzial, um Geld zu sparen und gleichzeitig die Versorgung zu verbessern“, sagte Lauterbach in Berlin. Die Reaktionen auf die Vorschläge fielen gemischt aus.
Heute sind die Notfallambulanzen häufig überfüllt - Ärzteorganisationen beklagen seit Jahren, dass vor allem am Wochenende dort auch viele Menschen mit leichteren Beschwerden vorstellig würden. Lauterbach erläuterte, 25 bis 30 Prozent der Fälle aus Notfallambulanzen könnten auch in Arztpraxen behandelt werden.
Die Notaufnahmen sollen künftig in neue Integrierte Notfallzentren aufgehen. Pro 400.000 Einwohnerinnen und Einwohner solle es ein Zentrum geben, kündigte Lauterbach an. Zu diesen Zentren soll auch je eine ambulante Notdienstpraxis in unmittelbarer Nähe gehören. Die Einschätzung, wo die Patientinnen und Patienten versorgt werden sollen, soll an einem sogenannten gemeinsamen Tresen stattfinden.
In Kern ziele die Reform darauf ab, dass die Patientinnen und Patienten dort behandelt werden, wo es am besten und schnellsten gehe, so Lauterbach. „Das muss nicht immer das Krankenhaus sein“, sagte der Politiker. „In vielen Fällen ist die notdienstliche Akutversorgung sehr viel sinnvoller.“ Häufig genüge auch der Besuch der Hausarztpraxis am nächsten Tag.
Die unter der Rufnummer 116 117 erreichbaren Terminservicestellen der Kassenärztlichen Vereinigungen sollen ausgebaut werden. Sie sollen mit den unter 112 erreichbaren Rettungsleitstellen vernetzt werden. So soll es künftig egal sein, welche der beiden Nummern man wählt.
Wählt ein Notfall-Patient die 116 117, soll er beispielsweise auch auf diese Weise einen Krankenwagen geschickt bekommen können. Andersherum soll auch ein Anruf bei der 112 in den Besuch einer Arztpraxis münden können, wenn es sich um einen leichteren Fall handelt.
Auch Telemedizin soll ausgebaut werden, wie Lauterbach erläuterte. Wenn die Ärztin oder der Arzt telefonisch oder per Video einen Praxis- oder Klinikbesuch als nicht nötig erachten, dann soll so auch ein elektronisches Rezept oder eine elektronische Krankschreibung ausgestellt werden können. Der Behandlungsfall könne dann abgeschlossen werden, ohne dass Betroffene außer Haus gehen müssten, so Lauterbach.
Auch die neuen Notfallzentren sollen sich mit den Terminservicestellen vernetzen. So soll es nach Angaben Lauterbachs möglich werden, dass man dort direkt Termine für eine Weiterbehandlung angeboten bekommt. Die Reform solle in der ersten Jahreshälfte im Bundeskabinett auf den Weg gebracht werden und ab Anfang 2025 gelten.
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) lobte „positive Ansätze“ - aber Lauterbach verfolge auch unrealistische Ideen. Besonders stören sich Deutschlands Kassenärzte an dem Vorhaben, dass sie - wie von Lauterbach geplant - rund um die Uhr das Angebot von Hausbesuchen organisieren sollen. Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Berlin, in deren Räumen Lauterbach seine Vorschläge vorstellte, bewertete die Pläne positiv. „Für mehr Leistungen sind mehr Ressourcen erforderlich“, mahnte der KV-Vorsitzende Burkhard Ruppert allerdings. Zusätzliches Personal und ausreichende Finanzierung seien nötig.
Der während der Corona-Pandemie bekanntgewordene Intensivmediziner Christian Karagiannidis forderte Tempo bei der geplanten Reform. „Schaut man sich an, wer in die Notaufnahmen in Deutschland kommt, dann zeigt sich, dass dort extrem viele 80- bis 90-Jährige hinkommen“, sagte Karagiannidis der „Ärzte Zeitung“ (Dienstag, online). Häufig stehe bei ihnen mehr ein Versorgungsproblem im Vordergrund als eine schwere Erkrankung.
Überwiegend positiv reagierten die Krankenkassen auf die Vorschläge. Stefanie Stoff-Ahnis, Vorständin des GKV-Spitzenverbandes, sagte: „Entscheidend ist eine bessere Verteilung in ländlichen Gebieten, damit für alle Menschen ein Integriertes Notfallzentrum in erreichbarer Nähe liegt“, so die Kassenverbands-Vorständin.
„Gleichzeitig ist der Überversorgung in Ballungsräumen zu begegnen.“ Einer Modellrechnung zufolge seien deutschlandweit künftig rund 730 integrierte Notfallzentren nötig. Laut offizieller Statistik behandelten 2022 mehr als 960 Kliniken fast 11 Millionen Notfälle ambulant auf Kassenkosten.
Die AOK-Chefin Carola Reimann forderte, dass die Notfallzentren von niedergelassenen und Klinikärzten generell gemeinsam betrieben werden müssten, um „Verteilungskämpfe“ zu verhindern. Der Grünen-Gesundheitsexperte Janosch Dahmen sagte, heute gebe es „eine toxische Gleichzeitigkeit von Über-, Unter- und Fehlversorgung“.
Durch die Pläne könnten auch Notfälle, „die die Strukturen eines Krankenhauses, nicht aber einen Aufenthalt in einem solchen brauchen, zukünftig besser versorgt werden“. Der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, kritisierte, Lauterbach setze auf funktionierende Patienten.
„Denn die Erkrankten müssen am Telefon die richtigen Angaben machen können, um eine bedarfsgerechte Behandlung zu erhalten.“ Die Vorsitzende des Sozialverband Deutschland, Michaela Engelmeier, lobte hingegen die geplant „bessere Vernetzung“ der beteiligten Bereiche der Notfallversorgung.
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