„Und wenn ich ...?“ - Was hinter intrusiven Gedanken steckt | FLZ.de | Stage

arrow_back_rounded
Lesefortschritt
Veröffentlicht am 09.10.2023 05:01

„Und wenn ich ...?“ - Was hinter intrusiven Gedanken steckt

Unser Gehirn ist in der Lage, sich ziemlich vieles auszumalen - auch Szenarien, die uns einen großen Schrecken einjagen. (Foto: Zacharie Scheurer/dpa-tmn)
Unser Gehirn ist in der Lage, sich ziemlich vieles auszumalen - auch Szenarien, die uns einen großen Schrecken einjagen. (Foto: Zacharie Scheurer/dpa-tmn)
Unser Gehirn ist in der Lage, sich ziemlich vieles auszumalen - auch Szenarien, die uns einen großen Schrecken einjagen. (Foto: Zacharie Scheurer/dpa-tmn)

Am Postkarten-Spruch „Glaub nicht alles, was du denkst“ ist etwas dran - intrusive Gedanken sind dafür das beste Beispiel. So heißen in der Psychologie aufdringliche, lästige Gedanken, die meist um Tabus kreisen.

Ein paar Beispiele: Wir stellen uns vor, wie wir im Büro die Kontrolle verlieren und die Chefin anpöbeln. Plötzlich ploppt der Gedanke auf, dem Kind oder dem Partner Gewalt anzutun. Und auf dem Aussichtsturm überlegen wir, wie es wäre, wenn wir über die Absperrung klettern und springen.

Das sind Momente, in denen es einem kalt den Rücken herunterläuft. Denn es ist das eigene Gehirn, dass so schreckliche und schockierende Szenarien produziert, die wir doch keinesfalls in die Realität umsetzen wollen. Oder etwa doch?

Der Extremfall: Flashbacks

Erstmal von vorn: „Es gibt verschiedene Arten intrusiver Gedanken“, sagt der Psychologische Psychotherapeut René Noack. Er leitet die Tagesklinik für Angst- und Zwangserkrankungen der Klinik und Poliklinik für Psychotherapie und Psychosomatik in Dresden.

So gibt es zum Beispiel besonders heftige Intrusionen, die nach traumatischen Erlebnissen auftauchen und als Flashback bezeichnet werden. Das sind Erinnerungen an Ereignisse, die Betroffene immer wieder mit voller Wucht durchleben. Flashbacks sind ein Symptom einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Sie können, müssen aber nicht, durch bestimme Reize ausgelöst werden.

„Man hat zum Beispiel einen Überfall erlebt und läuft dieselbe Straße wieder entlang. Daraufhin kann ein Gedanke an den Überfall ganz plötzlich auftauchen“, sagt Julia Asbrand, Professorin für Klinische Psychologie des Kindes- und Jugendalters an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena.

Gedanken kommen und gehen

Und was ist, wenn uns tabuisierte Verhaltensweisen - etwa im Büro laut zu schreien - in den Kopf schießen? „Solche Gedanken können einfach kommen und sind auch nicht schlimm“, sagt Julia Asbrand. „Unser Gehirn produziert sie, sie tauchen auf und verschwinden wieder.“

Dass man sich beispielsweise vorstellt, sein Auto gegen einen Baum zu lenken, ist zwar durch den Baum angestoßen, den man in dem Moment sieht. Es heißt aber nicht, dass man sich wirklich das Leben nehmen möchte. Asbrand stellt klar: „Nur weil man etwas denken kann, heißt das nicht, das man es auch wirklich tun wird oder tun möchte.“

Wo eine psychische Störung beginnt

Das Auftauchen intrusiver Gedanken ist in einem bestimmten Rahmen also völlig normal. Fies sind sie trotzdem: Obwohl wir die Gedanken als sinnlos erleben, können wir ihnen meist nichts entgegensetzen.

Das kann bei Eltern zum Beispiel der Gedanke sein, seinen Kindern etwas anzutun. „Gerade, weil man seine Kinder liebt und nicht möchte, dass ihnen etwas zustößt, ist dieser Gedanke für Eltern natürlich sehr belastend“, sagt die Psychologin Julia Asbrand.

Aber auch, wenn solche Gedanken immer wieder auftreten, heißt das noch nicht direkt, dass man unter einer psychischen Störung leidet. „Eine psychische Störung entsteht dann, wenn man durch die Gedanken langfristig belastet und beeinträchtigt wird“, sagt Julia Asbrand.

Also etwa, wenn Eltern überlegen, die Kinder in Pflege zu geben, weil sie nicht wissen, ob sie mit ihnen weiterhin allein sein können. Professionelle Hilfe ist also dann wichtig, wenn sich intrusive Gedanken gravierend auf den Alltag und Beziehungen auswirken. Denn dann können sie Ausdruck einer Zwangserkrankung sein.

Der Schlüssel: von den Gedanken distanzieren

„Personen mit einem besonderen Sicherheits- und Kontrollbedürfnis haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass sich solche Gedanken verselbstständigen“, sagt René Noack. Denn solche Menschen haben es schwerer, sich von den Gedanken zu distanzieren. Lieber gehen sie auf Nummer sicher - und befreien zum Beispiel die Wohnung von allen Küchenmessern.

Die gute Nachricht: Den meisten Menschen fällt es leicht, sich von intrusiven Gedanken zu distanzieren. Intrusive Gedanken haben sogar eine Funktion.

Psychologin Asbrand sagt: „Der Mensch ist ein kreatives Wesen und kann sich sehr vieles vorstellen.“ Mit Blick auf die Evolution eine wichtige Fähigkeit. Denn, wenn wir uns angsteinflößende Situationen vorstellen können, können wir sie vorab durchspielen und Lösungen entwickeln. Denn Angst hat die Funktion, uns zu beschützen.

Allerdings bedeutet das nicht, dass sich alles, was wir uns vorstellen können, auch wirklich ereignen kann oder wird. „Deswegen würde ich solche Gedanken erst mal nicht zwingend als bedrohliches Signal einordnen. In der Regel erinnert man sich auch nicht an sie, weil man ihnen zu Recht keinen besonderen Wert beimisst“, sagt Asbrand.

Gedanken zulassen - und loslassen

Und wie können wir damit umgehen, wenn uns intrusive Gedanken anspringen? „Alle Gedanken, die man hat, sind erst einmal nur Gedanken. Sie dürfen sein“, sagt Julia Asbrand. Es kann ebenso helfen, sich klarzumachen, dass die Gedanken wieder verschwinden und Platz machen für andere.

Ähnlich läuft es, wenn in einer Psychotherapie an solchen Gedanken gearbeitet wird: Dort lernen Betroffene vor allem, die Gedanken als unsinnig zu identifizieren. Und sie lernen, sich emotional von ihnen zu distanzieren, beispielsweise indem man sie mit Verbildlichungen des Quatsch-Charakters verknüpft, wie Noack erklärt.

Eine andere Strategie: den Gedanken Raum geben, hinterfragen, wieso man über ein bestimmtes Szenario nachdenkt. Und es einfach mal zu Ende zu denken.

„Eltern kommen dann ziemlich sicher darauf, dass sie den Gedanken, ihren Kindern etwas anzutun, denken, weil sie sich um ihre Kinder sorgen und auf keinen Fall möchten, dass ihnen etwas zustößt“, sagt Asbrand. Man könne so verstehen, dass man eigentlich gerade genau das Gegenteil tut und seinen Schutzauftrag besonders ernst nimmt.

© dpa-infocom, dpa:231006-99-468391/2


Von dpa
north