Man sitzt im Sprechzimmer, vielleicht nach langer Wartezeit auf den Arzttermin, schildert die Beschwerden, in der Hoffnung auf Hilfe. Doch dann fallen Sätze wie: „Das ist sicher nur Stress“ oder „Die Menstruation bringt eben Schmerzen mit sich.“ Tests und Therapien, die man sich erhofft hat? Fehlanzeige.
Besonders Frauen erleben, dass ihre Symptome in der Arztpraxis nicht ernst genommen oder als psychosomatisch abgetan werden. Heißt: Arzt oder Ärztin vermutet die Ursache für eine Erkrankung in der Psyche, was aber längst nicht immer stimmen muss.
In einer YouGov-Umfrage Auftrag von Doctolib gaben 44 Prozent der Frauen an, ihnen sei schon einmal oder mehrfach suggeriert worden, dass ihre Beschwerden psychosomatisch seien. Bei den Männern waren es 28 Prozent.
In diesem Zusammenhang fällt oft der Begriff „Medical Gaslighting“. Gaslighting ist dabei eine Form psychologischer Manipulation, bei der eine Person einer anderen systematisch ihre Wahrnehmung abspricht.
Der Begriff „Medical Gaslighting“ ist aber nicht unumstritten. Denn er suggeriert, Ärzte würden Patienten absichtlich manipulieren, so Martina King, die an der Schweizer Universität Freiburg zu den kulturellen Dimensionen der Medizin forscht.
Von „Medical Gaslighting“ zu sprechen kann King zufolge sogar die Situation verschlimmern, weil dadurch beide Seiten - Arzt und Patient - gegeneinander ausgespielt werden. Sie empfiehlt, stattdessen beispielsweise von „medizinischer Fehleinschätzung“ zu sprechen.
Das Phänomen ist allerdings nicht mit falscher Kommunikation gleichzusetzen, wie die Gynäkologin Mandy Mangler sagt. Ärzte erkennen manchmal eine Krankheit schlicht nicht oder verstehen die Beschwerden nicht. Dahinter steckt nicht böse Absicht der Ärztinnen und Ärzte, so Martina King. Vielmehr ist das Problem eng verbunden mit Strukturen in Gesundheitssystem und Forschung.
Werden Symptome nicht ernst genommen oder abgetan, kann das schwerwiegende Folgen haben: „Zum Beispiel kann das weiter bestehende, unbehandelte Krankheit bedeuten und im schlimmsten Fall auch zum Tod führen“, warnt Mandy Mangler, Chefärztin der Klinik für Gynäkologie und Geburtsmedizin im Auguste-Viktoria-Klinikum Berlin.
Solche Risiken entstehen unter anderem durch verzögerte Diagnosen. Typische Beispiele:
Apropos Forschung: Da die Medizin lange auf männliche Körper ausgerichtet war, sind Frauen Mandy Mangler zufolge besonders von medizinischen Fehleinschätzungen betroffen. Das gilt ebenso für sogenannte marginalisierte Gruppen, wozu Menschen mit Migrationshintergrund oder mit Behinderung zählen.
Doch auch bei Männern kann es zu medizinischen Fehleinschätzungen kommen: So bleiben psychische Erkrankungen bei ihnen mitunter länger unerkannt. Denn sie zeigen mitunter andere Symptome als Frauen, etwa Gereiztheit und risikoreiches Verhalten bei Depressionen.
Fehleinschätzungen von Ärztinnen und Ärzten können aber auch Schaden anrichten, wenn dadurch falsche Therapieentscheidungen getroffen werden. Etwa bei Long Covid bzw. dem Chronischen Erschöpfungssyndrom (ME/CFS), wenn Patientinnen und Patienten Reha-Aufenthalte verordnet werden, die ihre Situation verschlechtern statt verbessern. „Wir haben hier auch Beispiele, wo Leute buchstäblich in den Rollstuhl rehabilitiert wurden“, sagt Martina King.
Ganz zu schweigen von den emotionalen Spuren, die es hinterlassen kann, wenn man sich mit seinen gesundheitlichen Problemen in Arztpraxen nicht gesehen fühlt. Manche Betroffene verlieren schließlich ganz das Vertrauen in Ärzte oder gar ins gesamte Gesundheitssystem - und holen sich keine Hilfe mehr, trotz fortschreitender Krankheiten.
Was kann man tun, wenn man Sorge hat, in der Arztpraxis nicht ernst genommen zu werden? Martina King rät, gut vorbereitet in den Termin zu gehen, also vorab die eigenen Symptome so detailliert wie möglich aufzuschreiben.
Orientieren kann man sich dabei an diesen Fragen, die das Portal „gesund.bund.de“ aufzählt:
Zusätzlich können Begleitpersonen beim Arzttermin unterstützen, indem sie ihre Beobachtungen schildern: „Alles, was man objektivieren kann, ist für den Arzt eine Hilfe“, sagt Martina King. Die Wissenschaftlerin rät generell, eher die Zusammenarbeit mit Arzt und Ärztin zu suchen, statt in eine Angriffshaltung zu verfallen.
Diese Strategie geht nicht auf? Dann lohnt es sich, das Gespräch zu suchen und dem Arzt oder der Ärztin sachlich das Feedback zu geben, dass man die eigenen Symptome nicht ausreichend berücksichtigt sieht. Nachfragen kann man auch, wie er oder sie zu seiner Einschätzung gekommen ist.
Und: Man kann laut King sein Recht wahrnehmen, eine Zweitmeinung bei einem anderen Arzt oder einer anderen Ärztin einzuholen oder sich zu einem Spezialisten überweisen zu lassen. Vielleicht bekommt man dort die medizinische Hilfe, die man sich verspricht.
Wenn selbst das nicht weiterhilft, können Mandy Mangler zufolge Patientenorganisationen und -beratungen sowie Selbsthilfegruppen eine wichtige Stütze sein. Sie bieten Orientierung, Austausch und konkrete Hilfen.
Was aber das Allerwichtigste ist: die eigenen Symptome weiterhin ernst zu nehmen und sich nicht selbst die Schuld zu geben - denn es handelt sich um ein strukturelles Problem, nicht um eigenes Versagen.
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