Weihnachtsmarkt-Besucher auf Messer kontrollieren, Personalien aufnehmen, Demonstranten wegschicken - unter welchen Bedingungen darf die Polizei das und mehr eigentlich tun? Seit Jahren schwelt darum in Bayern ein Streit zwischen Staatsregierung und Opposition. Nun naht eine mit Spannung erwartete Entscheidung: Am 13. März will der Bayerische Verfassungsgerichtshof sein Urteil verkünden, ob ein umstrittener Kernpunkt des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes (PAG) verfassungsgemäß ist.
SPD und Grüne fürchten, dass die bayerische Polizei zu früh zu sehr ins Leben der Menschen eingreifen darf, um mögliche Gefahren zu verhindern. Das CSU-geführte Innenministerium fürchtet bei einer Niederlage vor Gericht dagegen, dass den Beamten wichtige Befugnisse abhandenkommen könnten, um für Sicherheit zu sorgen. Dabei stehen im Mittelpunkt des Streits nur zwei Wörter im Gesetz. Die wichtigsten Fragen und Antworten:
Das PAG regelt, was die bayerische Polizei tun darf, um Gefahren zu verhindern - also bevor eine Straftat begangen werden kann. Das ist Ländersache. Was Polizistinnen und Polizisten zur Aufklärung von Verbrechen tun dürfen, ist in anderen Gesetzen und bundesweit einheitlich geregelt.
Das bayerische PAG ist schon seit Jahren umstritten, Auseinandersetzungen darüber landen auch immer wieder vor Gericht. Unter anderem ist darin festgehalten, dass Menschen auf Anordnung eines Richters bis zu einem Monat in sogenanntem Präventivgewahrsam festgehalten werden dürfen. Das soll die Begehung weiterer Straftaten verhindern. Zuletzt landeten besonders häufig Klimaaktivisten der Gruppe in Gewahrsam, die sich früher Letzte Generation nannte - weil sie nach Blockaden oft ankündigten, wieder in dieser Form protestieren zu wollen.
Aktuell geht es um zwei Wörter im Gesetzestext: drohende Gefahr. Denn schon wenn die vorliegt, darf die bayerische Polizei laut Artikel 11 a PAG aktiv werden, „um den Sachverhalt aufzuklären und die Entstehung einer Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut zu verhindern“.
Gemeint sind damit Situationen, in denen (noch) keine konkrete Gefahr besteht, eine Straftat also (noch) nicht unmittelbar zu erwarten ist. Die Polizei darf auf dieser Grundlage auch ermitteln, ob überhaupt wirklich eine konkrete Gefahr droht. Im Kern geht der Streit um die Frage: Sind die Regeln für ein so frühes Eingreifen der Polizei klar genug - oder lassen sie zu viel Spielraum und Unsicherheit?
Nach Ansicht von SPD und Grünen ist genau das im Gesetz nicht klar genug festgeschrieben. „Wenn sie als Gartenbesitzer häufig Dünger kaufen, kann es sein, dass sie erleben, wie eine Polizeidrohne zur Aufklärung über ihr Gartenhäuschen fliegt“, sagt Horst Arnold, Sprecher der Landtags-SPD für Themen rund ums Verfassungsrecht. „Es könnte ja sein, dass sie den Dünger zum Bombenbau nutzen könnten.“
Das bayerische Innenministerium nennt ein weniger dramatisches Szenario. Wenn zum Beispiel ein polizeibekannter Gefährder ankündige, anderen Menschen Gewalt anzutun, jedoch ohne konkrete Angaben, wem wann und wo genau, könnten Polizisten an seiner Adresse für eine sogenannte Gefährderansprache auftauchen - um dem Betroffenen klarzumachen, dass die Ermittler ihn im Blick haben.
Laut der umstrittenen Vorschrift müssen in absehbarer Zeit „Angriffe von erheblicher Intensität oder Auswirkung“ auf „bedeutende Rechtsgüter“ zu erwarten sein. Dazu gehören „der Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes“, „Leben, Gesundheit oder Freiheit“, „die sexuelle Selbstbestimmung“ und „Anlagen der kritischen Infrastruktur sowie Kulturgüter von mindestens überregionalem Rang“.
Das PAG eröffnet der Polizei in Bayern laut Tristan Barczak, Professor für Sicherheitsrecht an der Universität Passau, bei „drohender Gefahr“ eine ganze Reihe an sowohl informationellen als auch operativen Befugnissen: unter anderem Feststellung der Identität, Personenkontrollen, elektronische Aufenthaltsüberwachung sowie die Durchsuchung von Personen und die Sicherstellung von Sachen.
Ja. Andere Länder erlauben ihrer Polizei bei entsprechenden Gefahrenszenarien nur wenige Einzelmaßnahmen, nur informationeller Art oder nur für den Kampf gegen Terrorismus. Bayern hat mit dem Artikel 11a im PAG zudem eine sogenannte Generalklausel geschaffen - für alle nicht voraussehbaren Szenarien, die nicht speziell geregelt sind. „Die überwiegende Zahl der Bundesländer ist diesen Schritt nicht gegangen“, sagt Rechtsprofessor Barczak.
Das Konzept der drohenden Gefahr ist zwar in einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts abgesegnet worden - aber damals für den Bereich der Terrorbekämpfung im Streit um die Überwachungsbefugnisse des Bundeskriminalamts.
„Einige Länder - allen voran Bayern - haben das Konzept in der Folge jedoch in ihr Polizeirecht übernommen, auf operative Befugnisse erweitert und auf die Verhinderung vergleichsweise weniger schwerer Straftaten erstreckt“, sagt Barczak. Mit Blick auf die Verhältnismäßigkeit sei das „überaus problematisch“.
Tatsächlich geht es in der mündlichen Verhandlung vor dem Verfassungsgerichtshof ins juristische Detail - unter anderem, ob eine „drohende Gefahr“ gleichzusetzen ist mit einer „konkretisierten Gefahr“ - oder ob genau dies nicht zulässig ist.
Die CSU-geführte Staatsregierung brüstet sich oft damit, Bayern sei im Vergleich zu anderen Bundesländern besonders sicher. Ohne eine Generalklausel wie Artikel 11a fürchtet das Innenministerium nach eigenen Angaben eine „Schutzlücke“. Die Polizei könnte „dann unter Umständen nicht oder nicht mehr rechtzeitig handeln und die bevorstehende, „drohende“ Gefahr abwehren“, sagte ein Sprecher.
Horst Arnold von der SPD sieht die Gefahr, dass Bayerns Bürgerinnen und Bürger durch zu weitreichende Polizei-Befugnisse unter Generalverdacht gestellt werden. „Rechtsstaat bedeutet: Sicherheit für die Bürgerinnen und Bürger – auch vor Übergriffen des Staates“, sagt der Landtagsabgeordnete. Klarere Vorschriften seien auch im Interesse der bayerischen Polizei. Schließlich müssten die Ermittler ihr Eingreifen immer auch rechtlich begründen können.
SPD und Grüne argumentieren vor Gericht zudem, durch die weitreichenden Befugnisse könne es zu überlappenden Aufgabenbereichen von Polizei und Verfassungsschutz kommen.
Dann müsste die Staatsregierung höchstwahrscheinlich beim Polizeiaufgabengesetz nachbessern und einen neuen Entwurf vorlegen - der dann relativ umfassende Änderungen bringen müsste. Sollte der Verfassungsgerichtshof das Konzept der drohenden Gefahr im Artikel 11a PAG für rechtswidrig erachten, hätte das nämlich auch Auswirkungen auf weitere Vorschriften in dem Gesetz, in denen der Begriff erwähnt wird.
Für wahrscheinlicher halten Beobachter aber, dass der bayerische Verfassungsgerichtshof der Argumentation der Staatsregierung folgt. Der SPD-Abgeordnete Arnold hofft dann auf eine andere Instanz: Beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat er ebenfalls schon eine Beschwerde gegen das Gesetz eingelegt.
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