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Veröffentlicht am 24.04.2023 05:02

Die Lust auf Sex im Alter ist kein Tabu

Zärtliche Berührungen im Alltag, sich für den anderen hübsch machen: Auch das ist Teil der Sexualität. (Foto: Silvia Marks/dpa-tmn)
Zärtliche Berührungen im Alltag, sich für den anderen hübsch machen: Auch das ist Teil der Sexualität. (Foto: Silvia Marks/dpa-tmn)
Zärtliche Berührungen im Alltag, sich für den anderen hübsch machen: Auch das ist Teil der Sexualität. (Foto: Silvia Marks/dpa-tmn)

Wie ist das eigentlich mit der Lust? Gibt es ein bestimmtes Alter, in dem sich ein Schalter umlegt - und dann ist sie weg?

In Medien, Filmen, Werbung: Sex wird fast immer dargestellt von jungen Menschen. „Dabei sind wir bis zum letzten Atemzug sexuelle Wesen“, sagt Prof. Michael Vogt von der Hochschule Coburg. Er forscht zum Thema Partnerschaft und Sexualität im Alter und ist Paartherapeut. Auch Über-90-Jährige suchen bei ihm Beratung.

„Das Bedürfnis nach Sexualität lässt nicht nach“, sagt er. Aber es könne sich verändern, eine andere Ausdrucksform bekommen. In höherem Alter stünde häufig nicht mehr das große orgiastische Empfinden im Vordergrund, eher der Austausch von Zärtlichkeit.

Unlust hat häufig psychologische Ursachen

Dass sich im Alter die Sexualität verändert, liegt auch daran, dass sich die Körper verändern. Das sagt Aglaja Stirn, Professorin für Psychosomatische Medizin und Sexualmedizin an der Universität Kiel.

Männer hätten im Alter beispielsweise häufiger mit Erektionsproblemen zu kämpfen, Frauen mit Scheidentrockenheit aufgrund der nachlassenden Östrogenproduktion. Einschlafen muss die Sexualität deshalb aber nicht. Ob Tabletten oder Cremes - körperliche Beschwerden lassen sich häufig in den Griff bekommen. Erste Ansprechpartner sind die Gynäkologin oder der Urologe.

Doch das seien laut Aglaja Stirn oft gar nicht die Hauptgründe für fehlende Intimität - die lägen im Alter häufig tiefer, auf der psychologischen Ebene. „Viele Menschen tun sich schwer im Umgang mit ihrem Körper, der im Alter nicht mehr so performt. Das widerspricht dem Leistungsprinzip, nach dem unsere Gesellschaft strebt.“

Hinzu käme, dass der Körper sich optisch verändere, nicht mehr „mithalten“ könne mit dem Hochglanzbildern von jungen Menschen. All das könne zu Schamgefühlen führen und zu dem Gedanken: „Sex? Ach, das ist nichts mehr für mich.“ Das bestätigt auch eine Studie, die zeigt, dass Menschen an sexuellen Aktivitäten weniger Freude haben, wenn sie ihr Altern negativ sehen.

50- bis 60-Jährige sind sexuell aktiver als Junge

Dem entgegen steht jedoch auch eine erfreuliche Entwicklung - zumindest für etwas ältere Frauen. Forscher Michael Vogt sagt: „Studien zeigen, dass sich zunehmend Frauen nach der Menopause freier und offener in ihrer Sexualität fühlen und diese aktiver gestalten, während sich das sexuelle Interesse und Bemühen von jungen Menschen eher rückläufig entwickelt.“

Das läge beispielsweise daran, dass junge Menschen sich in einer Umbruchphase befänden und noch ihren beruflichen Platz finden müssten. „Das Leben als junge Person ist anspruchsvoll und kompliziert“, sagt Vogt. Hinzu käme die ständige Verfügbarkeit von vorgelebter Sexualität - beispielsweise in Pornos. „Das kann zu starken Verunsicherungen und schlimmstenfalls zur Abkehr von Intimität führen.“

Die Altersgruppe zwischen 50 und 60 Jahren erlebe all diese Probleme eher weniger. „In dieser Lebensphase sind die Kinder meist aus dem Haus, auch das Berufsleben verläuft ruhiger oder die Rente steht schon an“, sagt Vogt. Viele Menschen hätten dann die Muße, sich noch einmal ganz neu mit ihrem Partner zu beschäftigen.

Sexualität in Pflegeheimen - immer noch Tabuthema

Aber was ist mit Menschen, die 70 sind - oder älter? „Sie werden mit ihren sexuellen Wünschen und Bedürfnissen häufig nicht mehr gesehen“, bemängelt Vanessa del Rae, Buchautorin („Sex Deluxe“ - Sinnlich älter werden). Sie weiß, wovon sie spricht: Del Rae war viele Jahre Krankenschwester, Pflegedienst- und Heimleiterin. Heute bietet sie Coachings zu den Themen Sexualität und Sinnlichkeit an - auch für Mitarbeitende in Pflegeeinrichtungen.

„Gerade dort wird Menschen häufig ihre Sexualität abgesprochen“, berichtet sie. Und meint damit nicht nur Begehren und Lust, sondern vermeintliche Kleinigkeiten, die ebenfalls zur sexuellen Identität gehörten.

Für die eine sei das vielleicht der BH, der trotz Bettlägerigkeit zur Garderobe dazugehöre - oder die lackierten Fingernägel. Für den anderen heißt es vielleicht, nicht nur in Jogginghose herumzulaufen oder ein schönes Rasierwasser zu nutzen.

Privatsphäre respektieren und Wünsche anerkennen

Dass solche Dinge in Heimen häufig übersehen würden, sei oft kein böser Wille, betont Vanessa der Rae, sondern der Zeitmangel und zu wenig Wissen über die Bedürfnisse der Menschen. Sie wünscht sich, dass diese Bedürfnisse mehr Beachtung finden und nicht tabuisiert werden.

So sei beispielsweise Masturbation nichts, das im hohen Alter einfach aufhöre, sagt sie. Gesten wie das Anklopfen, bevor man ein Zimmer betritt, könnten bereits zu mehr Entspannung führen - sowohl seitens der Bewohner als auch des Pflegepersonals. Auch wäre es wünschenswert, in Heimen Gleitgele oder Cremes gegen Scheidentrockenheit bereitzuhalten.

Vanessa del Rae: „Einige Pflegeheime bieten sogar Dildoparties für ihre Bewohner an, und ich sage, warum nicht?“ Ebenso sehr begrüßt sie professionelle Sexualbegleiter, die das Bedürfnis nach Nähe und Zärtlichkeit alter Menschen befriedigen könnten.

Für mehr Lust im Bett: Verabreden und sich Zeit nehmen

Mehr Offenheit für das Thema Sexualität - und zwar in jedem Alter - wünscht sich auch Professorin Aglaja Stirn. „Es ist wichtig, über seine Bedürfnisse zu reden“, sagt sie. „Erst recht, wenn die Sexualität abflaut und ein Paar damit unglücklich ist.“

Manchmal helfe es schon, der Intimität mehr Platz im Leben einzuräumen, sich bewusst dazu zu verabreden, sich länger zu stimulieren und sich auf die körperlichen Veränderungen einzulassen. Das Knie zwickt? Oder die Hüfte macht nicht mehr so mit? Dann findet sich gemeinsam vielleicht eine andere Stellung.

Wer Probleme damit habe, so frei mit sich, der eigenen Sexualität oder der des Partners umzugehen, könne sich Hilfe holen. Denn: Gerade die älteren Generationen verbindet das Thema Sex häufig noch mit Scham. Ansprechpartner könnten Beratungsstellen wie Pro Familia oder Sexualtherapeuten sein.

Sehnsucht nach Berührungen bleibt - ein Leben lang

Dass diese Scham weniger wird - das hofft Professor Michael Vogt: „Es hat sich vieles verändert. Junge Menschen lernen mehr, sich ihren Gefühlen nicht zu verschließen und Probleme offener auszusprechen.“

Nun müsse es eben auch darum gehen, das Thema Sex bei der heutigen 70+-Generation aus der Tabu-Ecke zu holen. Denn auch wenn es vielleicht nicht jedes Mal ein Orgasmus ist: Die Sehnsucht nach Liebe, einer Berührung, einem Kuss - die bleibt. Und das sollte auch jeder formulieren dürfen.

© dpa-infocom, dpa:230421-99-400234/3


Von dpa
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