Von einigen in der Nacht heimreisenden Nationalspielern verabschiedete sich Julian Nagelsmann noch im Windsor Park dankbar für ihren leidenschaftlichen Arbeitseinsatz. Der Bundestrainer selbst zählte zum großen DFB-Tross, der am Morgen nach dem mit klassischen deutschen Tugenden erzwungenen Auswärtssieg im vorentscheidenden Schlüsselspiel gegen Nordirland in zwei Maschinen nach München und Frankfurt zurückflog.
Und das mit der Gewissheit, dass der viermalige Fußball-Weltmeister Deutschland im kommenden Sommer ziemlich sicher in Amerika seine 21. WM-Endrunde erleben wird - und das ohne den Stresstest in zwei Alles-oder-nichts-Partien in den Playoffs Ende März. Denn das, was alles überstrahlte, leuchtete im Stadion auf der Anzeigetafel. Da stand: Nordirland - Deutschland 0:1.
„Die drei Punkte sind heute wichtiger als die Ästhetik. Heute galt einfach mal, dreckig zu gewinnen“, sagte Nagelsmann. Er war zufrieden. Das Schlussbild der abgekämpften und wie Kapitän Joshua Kimmich mit geballten Fäusten jubelnden DFB-Kicker offenbarte nach der Schwerstarbeit in der zwei Jahre lang uneinnehmbaren nordirischen Heimfestung, wie wichtig dieser Erfolg durch das Schulter-Tor von Nick Woltemade in der 31. Spielminute war.
„Es war ein einziger Kampf. Es ging nur ums Ergebnis“, sagte Anführer Kimmich. Nach einer Sechs-Punkte-Woche mit zwei Zu-null-Siegen sieht in Gruppe A plötzlich alles wieder normal aus nach dem bestürzenden Quali-Fehlstart mit dem 0:2 in Bratislava gegen die Slowakei im September.
„Wir haben unsere Ausgangssituation komplett geändert. Wir haben alles in der eigenen Hand“, frohlockte Kimmich. Die DFB-Auswahl behauptete mit neun Zählern Platz eins vor der punktgleichen Slowakei, gegen die es im letzten Spiel am 17. November in Leipzig drei Tage nach der Pflichtaufgabe beim punktlosen Tabellenletzten Luxemburg ums direkte WM-Ticket gehen wird. Nochmal zwei Siege, das ist jetzt die klare Marschroute ohne weitere große Rechnerei.
Natürlich: Glanzvoll war's nicht in Belfast. Spielerisch dominant auch nicht. Und super souverän ebenfalls nicht. Und doch könnte dieser Abend in der Rückschau einmal für einen maßgeblichen WM-Wachstumsschub stehen.
Das ließen die verbalen und nonverbalen Reaktionen der Spieler erahnen, die als Protagonisten das klarste Gespür dafür haben, ob und wann es Klick macht. Man denke nur zurück an das zähe 2:1 nach Verlängerung im Achtelfinale gegen Algerien bei der WM 2014. Es war hinterher ein Meilenstein zum Titel.
„Es war keine Glanzleistung, aber für die Gruppe ein wichtiger Sieg“, sagte der turniererfahrene Kimmich. „Manchmal sind es die Spiele wie heute, die uns als Mannschaft wachsen lassen. So kann etwas entstehen“, ergänzte der Leipziger David Raum, den Nagelsmann zum „emotionalen Leader“ ernannte.
„Ich nehme mit, dass wir uns einlassen können auf so Spiele, auf so eine Atmosphäre, auf die Art des Gegners“, lobte Nagelsmann. Natürlich war Jungstar Woltemade mit seinem Premierentor im sechsten Länderspiel der Matchwinner. „Das Tor ist sehr wichtig für mich persönlich. Mein Spiel war bislang nicht ganz so glücklich in der Nationalmannschaft“, sagte Woltemade.
Der tatsächliche Matchwinner war aber die Mannschaft, die unter Druck ein neues Gemeinschaftsgefühl entwickelt hat. Sogar das Verteidigen kann noch ein deutsches Fußball-Gut sein. „Es war ein geiles Spiel, es hat Spaß gemacht als Innenverteidiger. Viele Zweikämpfe, viele Kopfballduelle. Olli (Baumann) hatte im Tor einen guten Tag, wir hatten einen guten Tag“, schwärmte Nico Schlotterbeck. Der Dortmunder Rückkehrer bildete mit Bayern-Verteidiger Jonathan Tah ein Bollwerk im Abwehrzentrum.
Eine WM-Elf, die Anlass zum Träumen gibt, zeichnet sich freilich acht Monate vor dem Turnierstart in Kanada, Mexiko und den USA nur in Puzzlestücken ab. Aber Nagelsmann hat immerhin mit einigem Pragmatismus ein funktionsfähiges Quali-Team gefunden. Beim 4:0 gegen Luxemburg und nun in Belfast begann zweimal dieselbe Elf. Ohne verletzte Stammkräfte wie Torwart Marc-André ter Stegen, Jamal Musiala, Kai Havertz oder auch Antonio Rüdiger setzt der Bundestrainer neben Kapitän Kimmich auf neue Fixpunkte und Form.
„Eine gewisse Kader-Struktur ist schon zu erkennen“, sagte der Coach. Der fünf Mann starke Bayern-Block bildet das Grundgerüst. Baumann ist im Tor mehr als eine Aushilfs-Nummer-1. Der 21 Jahre alte Münchner Aleksandar Pavlovic war - gesund und im Spielrhythmus - im Mittelfeld einer der Gewinner der Woche. So wie Vereinskollege Serge Gnabry oder auch Anführer Kimmich, für den es kein Makel mehr sein muss, rechts statt zentral zu spielen. „Am Ende wollen wir alle zur WM“, sagte der 30 Jahre alte Kapitän.
Fünf der acht Tore in der WM-Qualifikation erzielte die deutsche Elf nach Standards. „Das ist schon eine neue Qualität und kann immer ein Dosenöffner sein“, sagte Nagelsmann nach Woltemades Siegtor nach einer Ecke. Aus dem Spiel heraus hapert es dagegen. Karim Adeyemi hätte nach einem Traumpass von Florian Wirtz frühzeitig das beruhigende 2:0 erzielen müssen.
„Dann ist das Spiel zu“, sagte Nagelsmann. Er weiß, dass noch viel Arbeit auf ihn und seine noch unfertige (WM-)Mannschaft wartet. „Wir müssen uns spielerisch schon wieder nach vorne entwickeln“, mahnte er.
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