Altmeister Roger Kluge verteilte Handküsse ins Publikum, dann nahm er seine Frau Judith samt der beiden Kinder in den Arm und wischte sich die Tränen aus den Augen. Auch Youngster Tim Torn Teutenberg konnte sein Glück kaum fassen, schüttelte immer wieder ungläubig den Kopf. Das neuformierte Duo hat bei den Bahnrad-Weltmeisterschaften für ein Finale furioso gesorgt und dem deutschen Team zum Abschluss der Titelkämpfe in Kopenhagen doch noch die ersehnte erste Goldmedaille beschert.
Der 38-jährige Kluge und der 16 Jahre jüngere Teutenberg holten sich nach einer überragenden Vorstellung über 50 Kilometer mit 76 Punkten souverän den Titel vor Belgien (60) und Dänemark (59). Für Kluge war es der dritte Titel im populären Zweier-Mannschaftsfahren. Zuvor hatte er mit seinem langjährigen Partner Theo Reinhardt 2018 und 2019 triumphiert. In Kopenhagen war Reinhardt dieses Mal nicht dabei, stattdessen sprang der 22-jährige Teutenberg ein und überzeugte auf Anhieb.
„Es war mal wieder unerwartet. Dass wir am Ende den Titel sogar überlegen gewinnen, habe ich vor zwei Tagen nicht geglaubt. Wir haben unseren Plan 1:1 umsetzen können“, sagte Kluge und ergänzte: „Tim hat sich heute das Herz rausgefahren und gehalten, wo wir hinwollten - jung und ungestüm.“ Ein Teil des Titels gehe aber auch an Theo Reinhardt, „mit dem ich bis Olympia viel Zeit in diesem Jahr verbracht habe“, so Kluge.
Die Entscheidung fiel bei der vorletzten Wertung, als Kluge loszog und sich die entscheidenden Punkte holte. Zuvor hatte das Duo bereits zwei Rundengewinne herausgefahren. Dabei war Kluge erst am Freitag per Auto angereist, doch der Routinier hatte keinerlei Anpassungsschwierigkeiten. „Ich habe Roger als Nachwuchsfahrer immer zugeschaut – jetzt mit ihm Weltmeister zu werden, ist natürlich Wahnsinn“, sagte Teutenberg.
Damit wendete das Duo die schlechteste deutsche Bilanz seit 2007 gerade noch ab. Der Bund Deutscher Radfahrer (BDR) beendete die Titelkämpfe nach 22 Entscheidungen mit einer Gold-, einer Silber- und einer Bronzemedaille.
In den vergangenen Jahren hatten immer die beiden deutschen Topsprinterinnen Lea Sophie Friedrich und Emma Hinze mit ihren vielen Erfolgen die Bilanz gerettet. In Kopenhagen wurden die beiden achtmaligen Weltmeisterinnen schmerzlich vermisst. Denn zehn Wochen nach den Olympischen Spielen von Paris wurde bei den Titelkämpfen in Kopenhagen deutlich, dass die nächste Generation noch nicht der Weltspitze angehört.
„Wir waren mit einer ganz jungen Mannschaft am Start, um unseren Sportlerinnen und Sportlern eine internationale Standortbestimmung zu ermöglichen. Ich denke, jedem ist jetzt klar, dass noch einiges zu tun ist, um die Weltspitze zu erreichen“, resümierte Patrick Moster. Optimistisch stimmten den BDR-Sportdirektor mehrere Top-Acht-Platzierungen. „Die Basis ist vorhanden“, sagte Moster weiter.
Im Kurzzeitbereich der Frauen konnten sich Nachwuchskräfte wie Alessa-Catriona Pröpster (Offenbach) und Clara Schneider (Cottbus) in Abwesenheit von Hinze & Co. nicht entscheidend in Szene setzen. Darüber darf auch nicht der unerwartete vierte Platz im Teamsprint hinwegtäuschen. Für die EM im Februar in Belgien plant der BDR deshalb mit einer Rückkehr des Erfolgstrios aus Cottbus, das sich nach Olympia-Bronze im Teamsprint selbst eine Pause verordnet hatte.
Der von Bundestrainer Jan van Eijden eingeleitete Umbruch bei den Sprint-Männern kommt dagegen nur mühsam voran. Nach seinem guten Olympia-Auftritt kam der zweite sportliche Höhepunkt binnen zehn Wochen für den jungen Luca Spiegel aus Kaiserslautern zu früh. „Wir wissen, dass wir nicht mehr da sind, wo wir vor sieben, acht Jahren waren. Der Neuaufbau benötigt Zeit“, sagte Moster.
Der Männer-Vierer zeigte dagegen, dass der Jugend die Zukunft gehören kann. Das Quartett nutzte die Gunst der Stunde. In Abwesenheit einiger Top-Nationen fuhr das jüngste Team im Feld (Altersdurchschnitt 20,5 Jahre) erstmals seit 22 Jahren mit Bronze wieder zu einer WM-Medaille. Auch ein Nachfolger für den am Jahresende in eine andere Funktion wechselnden Bundestrainer Sven Meyer soll gefunden sein. Nachwuchs-Bundestrainer Marcel Franz, der die Mannschaft in Ballerup mitbetreute, will aber weiter im Juniorenbereich arbeiten.
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