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Veröffentlicht am 31.03.2025 00:07

Hidden Places: Wo Besucher das echte Amsterdam entdecken

Naturidyll im Bezirk Nieuw-West: der Jachthafen am See Sloterplas. (Foto: Christoph Driessen/dpa-tmn)
Naturidyll im Bezirk Nieuw-West: der Jachthafen am See Sloterplas. (Foto: Christoph Driessen/dpa-tmn)
Naturidyll im Bezirk Nieuw-West: der Jachthafen am See Sloterplas. (Foto: Christoph Driessen/dpa-tmn)

Amsterdam leidet unter „Overtourism“. Nach Berechnungen des Ferienportals „Holidu“ kommen auf jeden Einwohner jährlich zwölf Touristen – in Berlin sind es gerade mal zwei. Diese hohe Quote erklärt sich auch dadurch, dass Amsterdam mit gut 820.000 Einwohnern vergleichsweise überschaubar ist.

Dennoch gibt es auch in diesem Besuchermagneten Gegenden, in die sich kaum je ein Tourist verirrt – obwohl sie sehr interessant sind und viel näher am echten Amsterdamer Leben.

Zunächst einmal folgender Tipp: Es gibt eine gute Methode, auch die klassische Amsterdamer Grachten-Idylle, wegen der die meisten Gäste kommen, ganz für sich allein zu haben. Dazu muss man nur den Wecker auf 5 Uhr morgens stellen, am besten noch an einem Sonntag, und dann einen Spaziergang machen. Unvergesslich. Der Verkehr rauscht noch nicht, es ist still, und im unberührten Wasser der Kanäle spiegeln sich die Giebel der Patrizierhäuser.

Aber auch wer nicht so früh aufstehen will, kann typische Amsterdamer Backsteinfassaden ohne Gedränge genießen, wenn er nur die Metro zum Messegelände RAI nimmt. Hier liegt die Rivierenbuurt, ein Viertel ganz im Architekturstil der Amsterdamer Schule aus den 1920er und 1930er Jahren.

Wo Anne Frank wohnte, bevor sie untertauchte

Am Merwedeplein wohnte Anne Frank, bevor sie 1942 untertauchen musste. Wenn man von der Rivierenbuurt einen Spaziergang zum Olympiastadion von 1928 unternimmt, kommt man durch die noch reichere Apollobuurt, in der heute viele „Expats“ wohnen – gut bezahlte Manager oder IT-Experten, die von ihren Unternehmen für einige Jahre nach Amsterdam entsandt worden sind.

Aber wo begegnet man nun eigentlich den echten, den geborenen Amsterdamern, die auch ohne dicke Gehälter über die Runden kommen müssen? Ihr Biotop ist zum Beispiel der Bezirk Nieuw-West, und dort kann man sich auch gut als Tourist einquartieren.

 

Das Viertel ist etwas abgelegen, aber nur wenn man zu Fuß unterwegs ist. Mit einem Rad dagegen ist man schnell überall. Und ein „fiets“ zu mieten, ist ohnehin eine gute Idee. 

Mit seinem lückenlosen Netz an Fahrradwegen ist Amsterdam deutschen Großstädten um Lichtjahre voraus. Es macht Spaß, das selbst auszuprobieren. Radeln ist in der Hauptstadt jedoch keine Freizeitbeschäftigung, sondern die bevorzugte Art der Fortbewegung. Das bedeutet, dass man zügig fahren muss, oft im Strom mit vielen anderen. 

Kaffee trinken am friedvollen See

Überraschend ist, da man es von deutschen Großstädten auch anders kennt: Die allermeisten Fahrradfahrer halten sich an die Verkehrsregeln, also macht man es als Besucher besser auch so. Absolute No-Gos sind: plötzliches Stoppen, Abbiegen (auch mit Handzeichen), ohne dass dies an der Stelle vorgesehen ist, oder verzögertes Anfahren bei Grün.

Im Bezirk Nieuw-West macht das Fahrradfahren besonders viel Spaß, weil der Verkehr längst nicht so dicht ist wie in der Innenstadt. Zudem gibt es hier vom Fahrradsattel aus im öffentlichen Raum viele Wandgemälde zu entdecken, etwa ein leicht verfremdetes Milchmädchen von Vermeer, und dazu jede Menge Grün und Blau, zum Beispiel den See Sloterplas mit schönem Jachthafen.

Fast schon ländlich wird es im „Fruittuin van West“, im Obstgarten des Westens. Wie durch eine Höhle in einem begrünten Hang tastet man sich hinein und erkundet dann einen Innenhof mit biologisch angebautem Obst und Gemüse samt Café. Friedvoller als hier geht’s fast nicht.

Man kann von Nieuw-West auch eine Tagestour einmal quer durch die Stadt machen, ins entgegengesetzte Viertel Zuid-Oost. Vom Wilden Westen in den tiefen Osten sozusagen.

Dort winkt der berühmt-berüchtigte Stadtteil Bijlmermeer oder kurz Bijlmer (ausgesprochen: Bäjlmer). Einst war er eine Verheißung, dann lange Zeit ein Synonym für Angst und Armut, bis er in jüngster Zeit eine neue Anziehungskraft entwickelte.

Im „Paradies des neuen Menschen“

Entworfen wurde das Viertel in den 60er Jahren als „Paradies des neuen Menschen“ und „Stadt der Zukunft“. Damals wie heute liegt es im Grünen und besteht im Wesentlichen aus Hochhausblöcken. Was sofort auffällt, ist die Ruhe. Denn der Autoverkehr wird um das Viertel herumgeführt.

Eine Bahnstrecke, die das Viertel durchschneidet, verläuft auf Stelzen durch die Luft. Das führt dazu, dass dieses Gebiet den Fußgängern und Radfahrern vorbehalten ist. Dementsprechend sind Verkehrsunfälle praktisch unbekannt.

Im „Bijlmer Museum“ wird die Geschichte des Viertels lebendig. Sein Gründer Henno Eggenkamp ist ein Bijlmer-Pionier der ersten Stunde: 1969 ist der heute 79-Jährige als einer der ersten Bewohner eingezogen. „Ich habe alles miterlebt.“ Nie wollte er irgendwo anders hin, das Konzept des Viertels überzeugt ihn bis heute: Gesellschaftliche Klassen seien aufgrund der einheitlichen Architektur weitgehend aufgehoben.

„Jeder lebt in einer gleich großen Wohnung, und die kann man auch nicht verändern, indem man die Tür anders streicht oder irgendeinen Anbau dazu macht. Bei uns gibt es keine Statussymbole.“ Von außen sind die Wohnungen nicht einsehbar, weil dem Architekten Siegfried Nassuth (1922-2005) Privatsphäre wichtig war.

Sobald man aber hinausgeht, soll man sich als Teil einer Gemeinschaft fühlen können – so wiederum wollte Nassuth Anonymität und Einsamkeit vorbeugen. Es gibt Treffpunkte wie Spielplätze, Sportstätten, Sitzecken und Begegnungsräume.

Ein sehr internationales Viertel

Dennoch ging es dem Bijlmer in den 80er Jahren so wie vielen anderen Trabantenstädten: Wohlhabendere Bewohner zogen weg, stattdessen kamen Leute mit wenig Geld, meist Migranten. Dadurch sei Bijlmer ein sehr internationales Viertel geworden, sagt Eggenkamp. Es gab im Viertel aber auch Probleme mit Drogen und Kriminalität.

Am 4. Oktober 1992 wurde es dann Schauplatz einer Katastrophe. Es war an einem Sonntagabend, Eggenkamp weiß es noch genau: „Ich saß mit drei Freunden beim Kartenspielen, und da sahen wir einen riesigen orange-weißen Ball aus dem Himmel auf uns zurasen.“

Eine israelische Frachtmaschine hatte kurz nach dem Start vom Flughafen Schiphol eines ihrer Triebwerke verloren und stürzte daraufhin in eines der Bijlmer-Hochhäuser. 39 Bewohner und die vier Besatzungsmitglieder des Flugzeugs kamen um.

Das Unglück rückte den Bijlmer ins Zentrum des Interesses. In den 90er Jahren begann ein großes Sanierungsprogramm, das eine Revitalisierung zur Folge hatte. So eröffnete 1996 die Amsterdam-Arena, heute Johan-Cruyff-Arena, als Spielstätte von Ajax Amsterdam. Es entstand ein neues Selbstbewusstsein, das wesentlich in dem multikulturellen Charakter des Viertels wurzelt. 

Der Baum, der alles gesehen hat

An die Flugzeugkatastrophe erinnert heute ein sehenswerter Gedenkort, den Henno Eggenkamp mitgeprägt hat. Im Zentrum steht ein Baum, der an jenem Unglücksabend von den Flammen verschont blieb. „Der Baum, der alles gesehen hat“ - unter diesem Namen ist er landesweit bekannt. In seinen Zweigen zwitschern Vögel. Nebenan stakst ein Fischreiher vorbei, Kormorane fliegen von der Wasserfläche auf.

Der Bijlmer ist tatsächlich ein Naturparadies, ganz so wie es sich sein Gestalter Nassuth erträumt hat. Mit der fast vollständigen Verkehrsberuhigung war er seiner Zeit weit voraus. Und auch Hochhäuser werden heute wieder gebaut, um dringend benötigten Wohnraum zu schaffen. „Plötzlich wirkt der Bijlmer sehr modern“, meint Eggenkamp und lächelt. Als ob er es nicht die ganze Zeit gewusst hätte. 

Links, Tipps, Praktisches:

Reiseziel: Amsterdam ist die Hauptstadt der Niederlande und eine der großen Touristendestinationen Europas, vorwiegend aufgrund der gut erhaltenen Altstadt aus dem 17. und 18. Jahrhundert und der großen Kunstmuseen.

Reisezeit: Im Sommer ist die Stadt besonders überlaufen, insofern empfehlen sich Frühjahr, Herbst und Winter.

Anreise: Tagsüber gibt es alle zwei Stunden eine durchgehende ICE-Verbindung ab Frankfurt am Main. Regelmäßige Flugverbindungen werden auch von allen größeren Airports in Deutschland aus unterhalten.

Einreise: Es reicht ein Personalausweis. 

Unterkunft: Ratsam ist die Buchung eines Hotels, das etwas außerhalb liegt. Von da aus kann man per Fahrrad in die Innenstadt fahren. So wird der Aufenthalt wesentlich preisgünstiger. Ein modernes Boutiquehotel mit Restaurant und Fahrradverleih im Stadtteil Nieuw-West ist das „Met Hotel“; in Amsterdam-Oost liegt das Hotel „Casa 400“ mit Dachterrasse und guter Verkehrsanbindung dank Nähe zum Amstelbahnhof, im gleichen Stadtteil auch die „Pension Homeland“ (mit Brauerei); „Hostelle“ ist ein Hotel Viertel Zuid-Oost nur für Frauen. 

Geld: Die Niederlande gehören zur Eurozone.

Museum: Das Bijlmermuseum kostet 5 Euro Eintritt und ist samstags und sonntags von 10.30 bis 18.00 Uhr geöffnet, zudem unkompliziert nach Verabredung. Man kommt hier leicht mit Bijlmer-Bewohnern ins Gespräch - das ist der eigentliche Reiz des Besuchs. 

Weitere Auskünfte: Besucherportal Amsterdam (iamsterdam.com)

© dpa-infocom, dpa:250330-930-419023/1


Von dpa
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