Noch einmal Gänsehaut spüren, noch einmal die Euphorie erleben, noch einmal emotionale Ausnahmezustände aushalten: Wenige Tage vor dem Start der Fußball-Bundesliga durften die Aufstiegshelden des HSV in einem Kino am Hamburger Dammtor durch die Doku „Always Hamburg“ nochmals in die vergangenen anderthalb Jahre mit allen Aufs und Abs eintauchen - und die neuen Spieler des zurückgekehrten Erstligisten erhielten eine Ahnung von der Wucht des Vereins, für den sie jetzt spielen.
Die Gegenwart vor dem ersten Bundesliga-Spiel nach sieben Jahren Zweitklassigkeit ist rund um das Volksparkstadion weitaus ernüchternder. Vor der Partie am Sonntag (17.30 Uhr/DAZN) bei Borussia Mönchengladbach stellt sich die Frage: Reicht das für den Hamburger SV?
Cheftrainer Merlin Polzin will erst keine negative Stimmung aufkommen lassen. „Wir haben maximal Bock auf Sonntag und können es kaum erwarten“, sagte der 34-Jährige bei der Spieltags-Pressekonferenz zwei Tage vor dem Anpfiff. Er habe ein Problem damit, „wenn wir nach gewissen Momenten, die wir in der Vorbereitung hatten, in eine Opferrolle, in etwas Negatives kommen“.
Kurz vor der endgültigen Beletage-Rückkehr verkündete er auch die letzte mit Spannung erwartete Personal-Entscheidung: Aufstiegsheld Daniel Heuer-Fernandes wird als Nummer eins in die Saison gehen. Er setzte sich damit gegen seinen Herausforderer und Bayern-Leihgabe Daniel Peretz durch.
„Er gibt uns eine große Sicherheit und hat extrem viel Erfahrung im Verein“, sagte Polzin über Heuer Fernandes. „Er ist ein ganz wichtiger Faktor.“ Zugleich lobte er die Bayern-Leihgabe Peretz für seine sportlichen Leistungen und seine menschlichen Qualitäten: „Er ist Teil der Leadership-Group.“
Klar ist: Der Aufsteiger HSV ist anders als der Absteiger HSV. Letztlich war der Absturz 2018 eine logische Konsequenz aus einer Fülle an falschen Entscheidungen, Überschätzung und Eitelkeiten.
Der HSV 2025 kommt anders daher. In sieben Jahren Zweitklassigkeit hat sich der Verein wirtschaftlich konsolidiert, die Zahl der Mitglieder ist von etwa 80.000 auf 130.000 gestiegen, das Stadion ist mit 57.000 Zuschauern zumeist ausverkauft und dennoch herrscht sportlicher Realismus. Es scheint, als habe der Verein Bescheidenheit und Demut gelernt.
Keiner der Verantwortlichen gibt sich der Illusion hin, dass es in dieser Saison um mehr als den Klassenverbleib geht. Daher betreiben Cheftrainer Merlin Polzin und Sportvorstand Stefan Kuntz (62) bei den Fans bereits Frust-Prophylaxe.
„Der HSV kommt, um zu bleiben“, hatte Kuntz zu Beginn der Vorbereitung Anfang Juli zwar gesagt - wohl wissend, wie schwer das wird. Dass es sogar sehr schwer für den HSV werden könnte, zeigte sich in den darauffolgenden Wochen.
Spätestens der Blick auf die Testspielbilanz mit fünf Niederlagen bei 2:14 Toren gegen hochklassige Gegner und das mühevolle 2:1 nach Verlängerung beim Oberligisten FK Pirmasens im DFB-Pokal dürfte auch den größten Träumer in der HSV-Fangemeinde zurück in die Wirklichkeit geholt haben.
„Wir haben eine andere Art und Weise, die auf uns zukommen wird“, meinte Polzin. „Wir wollten diese Herausforderung, wir wollten uns mit den Besten messen. Wir haben einen klaren Plan, wie wir Fußball spielen wollen. Und da müssen wir uns als Verein weiterentwickeln.
In der Analyse nach der Saison hatten Polzin und sein Trainer-Team erkannt, mit der Spielweise in der 2. Bundesliga in der ersten Liga kaum eine Chance zu haben. Daraus folgte ein Wechsel des Spielsystems und ein Kaderumbruch, der eher einer Entkernung des Aufstiegs-Aufgebots gleicht.
Zahlreiche Helden sind weg - einige freiwillig, einige unfreiwillig, einige sollen noch gehen. Andere spielen nur noch eine kleine Rolle im Polzin-System. So zog es etwa den überragenden Ludovit Reis zum Club Brügge. 22-Tore-Mann Davie Selke einigte sich mit dem HSV nicht auf einen neuen Vertrag und wechselte zu Basaksehir FK nach Istanbul. Der ausgeliehene Mittelfeldspieler Adam Karabec spielt jetzt bei Olympique Lyon.
Mittelstürmer Ransford Königsdörffer wollte weg, musste aber die Enttäuschung über den geplatzten Transfer zu OGC Nizza verdauen. Sein lange Zeit gesetzter Sturm-Kollege Robert Glatzel wird voraussichtlich weniger Spielanteile bekommen. Bakery Jatta - einziger verbliebender HSV-Spieler aus der Abstiegssaison - hat kaum Chancen auf Bundesliga-Minuten und soll wie Verteidiger Silvan Hefti gehen.
Der langjährige Kapitän Sebastian Schonlau hatte schon in der Aufstiegssaison seinen Stammplatz verloren und für die Bundesliga-Saison in Polzins Plan keinen Platz mehr. Der 31-Jährige wechselte zu den Vancouver Whitecaps mit Weltmeister Thomas Müller.
Den Abgängen stehen Zugänge wie Leipzigs Stürmer Yussuf Poulsen gegenüber, der gleich zum Kapitän bestimmt wurde, aber zunächst noch an seiner Fitness arbeitete. Oder Verteidiger Jordan Torunarigha (KAA Gent), der weniger durch Leistung als durch die Rote Karte im Test auf Mallorca auffiel.
Offensivspieler Rayan Philippe (Eintracht Braunschweig) muss sich noch zurechtfinden, Nicolas Capaldo (RB Salzburg) soll im defensiven Mittelfeld für Ordnung sorgen.
Zu den wenigen Aufstiegshelden mit Stammplatz-Aussichten zählen Außenverteidiger Miro Muheim, Abwehr-Partner Daniel Elfadli, Jonas Meffert im defensiven Mittelfeld und Angriffs-Wirbelwind Jean-Luc Dompé. Und die Umbauarbeiten sind längst nicht beendet. Ein Verteidiger und ein kreativer Mittelfeldspieler werden noch gesucht.
Durch die Personalrochaden muss eine neue Hierarchie entwickelt werden, das Spielsystem ist noch nicht verinnerlicht. Waren es zu viele Maßnahmen für das Projekt Klassenverbleib?
„Es wird auch noch ein bisschen dauern, bis alles ineinander greift“, hatte Kuntz nach dem Spiel in Pirmasens gesagt. „Es wird ein Prozess, der wird viel Geduld brauchen. Der ist jetzt auch nächste Woche nicht beendet, sondern das wird noch eine Weile gehen.“ Doch Zeit und Geduld werden mit dem Anpfiff am Sonntag um 17.30 Uhr zu einem knappen Gut in der Bundesliga.
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