Die Zerstörung des Kachowka-Staudamms im Süden der Ukraine hat Russland nach Erkenntnissen britischer Geheimdienste veranlasst, große Truppenkontingente an andere Frontabschnitte zu verlegen. Russland rechne am Fluss Dnipro wegen der Überschwemmungen wohl nicht mehr mit einem ukrainischen Angriff, hieß es in London. In der russischen Grenzregion Belgorod gab es durch Beschuss erneut Verletzte.
Die russischen Einheiten, die bisher am östlichen Ufer des Flusses Dnipro stationiert waren, verstärken nach Erkenntnissen aus London nun die Abschnitte im Gebiet Saporischschja und bei Bachmut im Osten. „Darunter sind womöglich Tausende Soldaten der 49. Armee, inklusive der 34. motorisierten Brigade, sowie der Luftlandetruppen und Marineinfanterieeinheiten“, hieß es im täglichen Geheimdienst-Update der Briten weiter.
Der ukrainische Rettungsstab teilte auf seinem Telegram-Kanal mit, der Wasserstand nahe der südukrainischen Stadt Cherson habe sich fast normalisiert. Auf der ukrainisch kontrollierten Seite des Flusses Dnipro wurden bislang 17 Todesopfer gemeldet, auf der von Russland besetzten 35. Trotz des Wasserrückgangs stehen laut den ukrainischen Behörden im gesamten Flutgebiet noch 22 Siedlungen unter Wasser.
Der Kreml führt Sicherheitsprobleme dafür an, dass Vertreter der Vereinten Nationen nicht in die von Russland besetzte Flutregion südlich des zerstörten Kachowka-Staudamms in der Ukraine gelassen werden. „Das ist alles sehr schwer. Es ist schwer, ihre Sicherheit zu gewährleisten und viele andere Nuancen“, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der Nachrichtenagentur Interfax zufolge. Die Schuld dafür schob er zugleich Kiew zu.
Es sei sehr schwierig, von ukrainischer Seite auf das von Moskau kontrollierte Dnipro-Ufer zu kommen. „Da gibt es ständigen Beschuss, ständige Provokationen, es werden zivile Objekte, Menschen und Bevölkerung beschossen. Leute sterben.“ Zuvor hatten die Vereinten Nationen beklagt, keinen Zugang zu den russisch besetzten Überschwemmungsgebieten zu bekommen.
In der russischen Grenzregion Belgorod nahe zur Ukraine sind nach Behördenangaben in der Kleinstadt Waluiki sieben Zivilisten durch Beschuss verletzt worden. Gouverneur Wjatscheslaw Gladkow machte dafür die ukrainischen Streitkräfte verantwortlich. Die Kleinstadt liegt 15 Kilometer von der Grenze entfernt am Fluss Oskil. An diesem Fluss verläuft etwas weiter südlich innerhalb der Ukraine die Front.
Waluiki gilt als wichtiger Umschlagpunkt für die Versorgung der russischen Truppen im ukrainischen Gebiet Luhansk. In dem Landkreis sind größere Truppenverbände stationiert. Zwar gilt die Stoßrichtung im Norden von Luhansk für Kiew als strategisch nicht prioritär. Experten schließen aber einen Angriff zur Ablenkung russischer Kräfte von anderen Frontabschnitten nicht aus.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sieht in einer erfolgreichen Gegenoffensive der Ukraine auch die Grundlage für eine starke Verhandlungsposition mit Russland. „Je mehr Land die Ukrainer in der Lage sind zu befreien, desto stärker werden sie dann am Verhandlungstisch sein können“, sagte Stoltenberg in Berlin bei einer Pressekonferenz mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD).
Stoltenberg fügte hinzu: „Wir wollen alle, dass dieser Krieg endet. Aber ein gerechter Frieden kann nicht dazu führen, dass der Konflikt eingefroren wird und ein Diktat-Friede Russlands akzeptiert wird.“ Die Nato stehe an der Seite der Ukraine und unterstütze ihr Recht auf Selbstverteidigung, wie in der UN-Charta verankert.
Verteidigungsexperten im Nato-Anwärterland Schweden halten es nicht für unmöglich, dass auch ihr Land von Russland angegriffen werden könnte. „Ein bewaffneter Angriff auf Schweden kann nicht ausgeschlossen werden“, schrieb der Verteidigungsausschuss Försvarsberedningen in einem am Montag veröffentlichten sicherheitspolitischen Teilbericht.
Dass Russlands Streitkräfte in der Ukraine gebunden seien, begrenze zwar die Möglichkeiten, diese Ressourcen in anderen Weltregionen zu nutzen. Moskau habe aber seine Hemmschwelle zum Einsatz militärischer Gewalt gesenkt und eine hohe politische wie militärische Neigung zum Risiko gezeigt.
Zum Auftakt der Deutschland-Besuchs der chinesischen Regierung hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Montag Ministerpräsident Li Qiang im Schloss Bellevue empfangen. China spielt wegen seines guten Verhältnisses zu Moskau ein wichtige Rolle als etwaiger Vermittler.
Der russische Angriffskrieg dürfte also auch Thema sein, wenn Li und Kanzler Scholz vor den Regierungskonsultationen am Dienstag zu einem Abendessen zusammenkommen. China versucht mit seinem Sondergesandten Li Hui zu vermitteln und dringt auf Verhandlungen.
Verteidigungsminister Boris Pistorius will kurzfristig nun doch an einem von Frankreich organisierten Ministertreffen zur Luftverteidigung in Europa teilnehmen. Der SPD-Politiker werde noch am Montag nach Paris fliegen, bestätigte das Verteidigungsministerium in Berlin. Die beiden Verbündeten liegen in der Frage, wie eine modernisierte Luftverteidigung aufgestellt sein soll, über Kreuz.
So schloss sich Frankreich nicht der von Deutschland angestoßenen „European Sky Shield Initiative“ (Essi) an, der mittlerweile 17 Staaten angehören. Das Essi-Projekt soll helfen, Lücken im Nato-Schutzschirm für Europa zu schließen. Dazu gehört auch der Kauf des weitreichenden israelischen Systems Arrow 3.
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