Erst zum vierten Mal stellt Deutschland derzeit eine europäische Kulturhauptstadt. Neben dem slowenisch-italienischen Städteduo Nova Gorica und Gorizia ist 2025 die sächsische Stadt Chemnitz, das frühere Karl-Marx-Stadt, eine „European Capital of Culture“ - nach Essen und dem Ruhrgebiet (2010), Weimar (1999) und Berlin (1988).
Die Praxis, jährlich in Europa Kulturhauptstädte zu küren, wird diesen Sommer 40 Jahre alt. Vielen gilt sie als größte Erfolgsgeschichte europäischer Kulturpolitik. Zu verdanken ist die populäre Tradition einer Filmschauspielerin.
„Die Idee ging maßgeblich auf die griechische Kulturministerin Melina Mercouri und ihr französisches Pendant, Jack Lang, zurück“, erklärt in Köln der Politikwissenschaftler Jürgen Mittag. „Beide verfolgten das Ziel, durch Kultur die gemeinsame europäische Identität zu stärken und zu vertiefen.“
Mercouri (1920-1994) war einst mit der Komödie „Sonntags… nie!“ (1960) bekanntgeworden. Darin spielte sie eine Prostituierte in Piräus, die einen Frauenaufstand anführt und mit Lebenslust obsiegt. Mercouri spielte zum Beispiel auch neben Peter Ustinov in „Topkapi“ mit und sie sang - sogar auf Deutsch („Ein Schiff wird kommen“).
Während der griechischen Militärdiktatur (1967-1974) lebte die später sozialistische Politikerin im Exil in Frankreich. Wegen des Kampfs gegen das Regime erkannte ihr der führende Junta-Politiker Stylianos Pattakos die griechische Staatsbürgerschaft ab.
Mercouris Antwort darauf lautete: „Ich bin als Griechin geboren und werde als Griechin sterben. Herr Pattakos ist als Faschist geboren. Er wird als Faschist sterben.“ Kulturministerin war Mercouri 1981 bis '89 und erneut '93/'94.
Juni 1985: In London besuchten Charles und Diana die Europa-Premiere des James-Bond-Films „Im Angesicht des Todes“ mit Roger Moore. In den Charts in Deutschland stand Modern Talkings „You Can Win If You Want“ hoch im Kurs.
Am 21. Juni 1985, einem Freitag, proklamierte der damalige griechische Staatspräsident Christos Sartzetakis die Metropole Athen als erste „Kulturstadt Europas“. Bis zur letzten Stunde war noch gehämmert und geschraubt worden, wie die Nachrichtenagentur dpa damals berichtete. Am Abend feierte sich Athen ausgelassen an den rund 2.500 Jahre alten Bauten auf der Akropolis.
Die Idee, jedes Jahr eine Stadt zu zelebrieren, war im Juni 1983 bei einem Gipfel beschlossen worden. Demnach sollte fortan jedes Jahr eine andere Metropole „Kulturelle Hauptstadt“ der Europäischen Gemeinschaft, wie man die EU damals noch nannte, werden.
Athen begann 1985 mit einem überschaubaren Sommer-Festival. Heute ist das Ganze meist mit einer Städtebauoffensive und einer Menge Events verbunden. Es ist eine Chance für bislang eher verkannte Städte und Regionen, europaweit oder gar global im Fokus zu stehen.
Nach Athen kamen Florenz (1986), Amsterdam (1987), West-Berlin (1988) und Paris (1989) an die Reihe. Die ersten Jahre seien „stark von hochkulturellen Veranstaltungen geprägt“ gewesen, sagt Mittag, der einst das Buch „Die Idee der Kulturhauptstadt Europas“ herausgab.
In den 90er Jahren habe sich das Konzept grundlegend verändert. „Industrie- und Hafenstädte wie Glasgow (1990) oder Antwerpen (1993) nutzten den Titel nicht mehr nur für prestigeträchtige Kunstinstallationen, sondern auch als Katalysator für urbanen Wandel“, erklärt Professor Mittag.
Der Titel wurde jetzt zur Revitalisierung von Stadtvierteln genutzt, zur Förderung des Tourismus und auch zur Stärkung der lokalen Identität. „Die Kulturhauptstadt wird zum strategischen Instrument der Stadtentwicklung“, so Mittag, „mit teils spektakulären Events wie 2010, als unter der Federführung Essens das gesamte Ruhrgebiet als lebendige Kulturmetropole bespielt wurde.“
Heute müsse, sagt der Kulturhauptstadtexperte Mittag, immer wieder „die Balance zwischen kultureller und europäischer Innovation, zwischen infrastruktureller und wirtschaftlicher Nachhaltigkeit sowie zwischen touristischer Attraktion und der Einbeziehung der lokalen Bevölkerung“ neu austariert werden.
Übrigens wäre Europa nicht Europa, wenn es nicht im Laufe der Zeit mit dem Prädikat kompliziert geworden wäre. So gab es im Jahr 2000 einmalig sogar mal neun Hauptstädte, seitdem tragen meist zwei Städte pro Jahr den Titel.
Seit 2020 können sich außerdem alle paar Jahre Städte aus EU-Beitrittskandidaten oder EFTA/EWR-Staaten um den Titel bewerben. So gibt es immer mal wieder drei Kulturhauptstädte Europas. 2024 waren es Bad Ischl (Österreich), Tartu (Estland) und Bodø (Norwegen). 2028 sollen es Bourges (Frankreich), Budweis (Tschechien) und Skopje (Nordmazedonien) sein.
© dpa-infocom, dpa:250620-930-693578/1