Manchmal liegt es in der Familie, oft ist es auch Zufall: Innerhalb einer Familie sind mehrere Mitglieder psychisch erkrankt oder haben etwa eine Störung. Wie finden betroffene Eltern und Kinder einen Umgang damit? Der erste Schritt ist, die Situation zu akzeptieren. Der zweite, einen Alltag zu schaffen, der die Bedürfnisse aller berücksichtigt. Zwei Expertinnen geben Tipps, die das Familienleben erleichtern.
„In Familien, in denen die Eltern psychisch erkrankt sind, ist die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass auch die Kinder eine solche Störung entwickeln“, sagt Eva Möhler, Leiterin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Universitätsklinikum des Saarlandes. Das kann genetische Gründe haben. Oder es hängt mit der Belastung in der Familie zusammen: So könne ein Kind eine Angststörung entwickeln, wenn es sich ständig Sorgen um seine depressive Mutter mache, so Möhler.
Hier ist es wichtig, dass alle professionelle Hilfe bekommen. Neben Ärzten und Therapeuten sind es aber vor allem die Eltern, die Kinder positiv bestärken können. Auch der psychisch erkrankte Elternteil kann für seine Familie da sein. Zumindest in Phasen, in denen es ihm besser geht. Das kann für alle Seiten stärkend sein.
Je mehr man über die Erkrankungen oder Beeinträchtigungen weiß - und auch darüber, wie man mit ihnen umgehen kann - desto besser können alle Beteiligten damit leben. Worauf es dabei ankommt:
Zunächst ist es wichtig, dass die Familie die Situation akzeptiert und versteht: Eine psychische Krankheit ist keine Schwäche. Sie ist ein medizinischer Zustand, und so sollte man sie auch behandeln. „Bei einer psychischen Erkrankung sollte man sich nicht schämen, Hilfe in Anspruch zu nehmen“, sagt Heike Petereit-Zipfel vom Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen. „Je früher, desto besser kann einem selbst und den Angehörigen geholfen werden“, so die Psychosozialtherapeutin. Nicht nur durch Diagnostik und Therapie, sondern auch durch sozialpädagogische Familienhilfe.
Petereit-Zipfel erlebt häufig, dass die Betroffenen unter einer tatsächlichen oder angenommenen Stigmatisierung ihrer Krankheit leiden. „Um dem entgegenzuwirken, sollten sich Angehörige genau über die Krankheit informieren und gegebenenfalls selbst Vorurteile abbauen“, rät sie. Je mehr Angehörige über die spezifischen Erkrankungen ihrer Familienmitglieder wissen, desto besser können sie verstehen, was mit ihnen los ist.
Und: Haben Menschen etwa Depressionen, Asperger, ADHS oder eine temporäre psychische Krise bedeutet das nicht, dass Betroffene keine guten Eltern (mehr) sein können. Sie können und sollten im Rahmen der Möglichkeiten Verantwortung übernehmen. Zuvorderst gehört dazu, sich um die eigene Gesundheit zu kümmern.
Beispielsweise „ADHS ist keine schwere Krankheit“, sagt Möhler. „Mit entsprechender Behandlung können Eltern mit ADHS genauso gute Eltern sein wie alle anderen.“ Zu ihren ADHS-bedingten Herausforderungen zähle etwa, ihre Impulse zu kontrollieren, insbesondere im Umgang mit ihren Kindern.
Grundsätzlich sei es so: Eltern bleiben Vorbilder für ihre Kinder. Das bedeutet auch, dass die Handlungen der Eltern das Verhalten ihrer Kinder prägen. „Wenn ein psychisch erkrankter Elternteil fünfmal am Tag ausrastet, wird das Kind dies früher oder später als legitime Verhaltensweise kopieren“, so Möhler. Besser ist, sie machen vor, wie man mit einer psychischen Schwäche gut umgehen kann. Heike Petereit-Zipfel empfiehlt zu sagen: „Ich bin jetzt sehr angespannt. Ich gehe jetzt erst einmal eine Runde um den Block, dann können wir darüber reden.“
Das ist besonders wichtig, weil Kinder sich oft mindestens unterbewusst Schuld an der seelischen Erkrankung ihrer Eltern geben, erklärt Medizinerin Möhler. Sie denken, sie hätten etwas falsch gemacht: Wären sie ein besseres Kind, wären Mama oder Papa nicht so traurig oder wütend. Aber „keiner ist schuld an der Krankheit des anderen. Es entlastet die Kinder, wenn man ihnen das sagt“, betont sie.
„Kinder können auch denken, dass es ihre Aufgabe ist, bei Mama zu bleiben und sie zu trösten“, fügt sie hinzu. Dadurch stellen sie ihre eigene Entwicklung völlig zurück. Das sollten Eltern verhindern, hier gibt familienorientierten Angebote, die sich speziell an Kinder psychisch kranker Eltern richten und vorbeugend wirken.
Verdrängen und überspielen funktionieren nicht - offen und ehrlich miteinander zu reden ist auch in Familien mit mehreren psychisch Erkrankten ratsam. Alle sollten sich gegenseitig den Raum und die Zeit geben, über ihre Gefühle, Ängste und Bedürfnisse zu sprechen.
Den Erkrankten hilft es, wenn man einfühlsam und verständnisvoll auf sie eingeht und nicht jedes Verhalten mit der Krankheit in Verbindung bringt, und sie so quasi auf die Erkrankung oder Störung reduziert. „Wer die Krankheitsbrille aufsetzt, hat ein defizitäres Menschenbild. Besser ist es, einen Menschen mit all seinen Besonderheiten zu sehen und sich zu fragen, wie man ihm helfen kann“, sagt Heike Petereit-Zipfel.
Sie empfiehlt, die Betroffenen regelmäßig zu fragen, wie es ihnen geht. Vielleicht bemerkt man kleine Verbesserungen. Auch helfe es, mehr über die Symptome zu sprechen, statt ständig die Diagnose zu thematisieren, so die Expertin. Eltern und Kinder sollten auch in akuten Krankheitsphasen in Beziehung bleiben.
„Routinen geben Sicherheit“, sagt Eva Möhler. Deshalb ist ein strukturierter Tagesablauf für alle eine Stütze. Der gesunde Elternteil sollte darauf achten, dass die Kinder weiterhin zur Schule gehen, ihren Hobbys nachgehen und Freunde treffen. Das gilt - soweit möglich - auch für ein psychisch krankes Kind.
Und man kann noch mehr tun: Aktivitäten planen, die der psychischen Gesundheit guttun, Selbstwirksamkeit und Lebensfreude vermitteln. Kinder sollen verstehen und lernen: „Es ist okay, das Leben zu genießen, auch wenn Papa das gerade nicht kann, weil er krank ist“, erklärt sie.
Dass nicht erkrankte Menschen mit den Betroffenen mitleiden, sei ganz normal, sagt auch Petereit-Zipfel. Dennoch sollten auch sie weiterhin Dinge tun, die ihnen Spaß machen und sie positiv bestärken, empfiehlt sie. Das können Sport, Kino, Freunde oder der Besuch einer Selbsthilfegruppe sein. Ein Ausgleich sei unbedingt notwendig, um nicht irgendwann selbst psychisch oder körperlich zu leiden.
Für die psychisch Erkrankten wiederum kann es entlastend sein, wenn sie sehen, dass es ihren Angehörigen gut geht und sie ihr Leben nicht nur nach ihnen ausrichten.
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