Es ist eine halsbrecherische Verfolgungsfahrt. Aus dem Polizeiwagen filmen die Beamten die Szenerie. Weit vorn ist das Fahrzeug eines mutmaßlichen Schleusers zu sehen. Der Wagen beschleunigt auf 180 Stundenkilometer, versucht eine Ausfahrt zu nehmen. Im letzten Moment lenkt er zurück auf die Autobahn, rast mit Tempo 150 in die nächste Ausfahrt - und kracht in die Leitplanke. Der Wagen überschlägt sich. Sieben Migranten sterben, unter ihnen ein sechsjähriges Kind. Die übrigen 15 werden zum Teil schwer verletzt.
Der mutmaßliche Schleuser muss sich nun wegen siebenfachen Mordes vor dem Landgericht Traunstein verantworten. Die Anklage wirft ihm neben anderen Tatbeständen auch 15-fachen versuchten Mord vor. 22 Migranten hatte er ungesichert in dem für neun Personen zugelassenen Kleinbus mitgenommen.
Er hat nicht gewollt, dass jemand zu Schaden komme, geschweige denn getötet werde, lässt der 25-Jährige über seinen Anwalt zum Prozessauftakt erklären. Die Schleuserfahrten räumt er ein, es sind neben der Fahrt mit tödlichem Ende drei weitere.
Laut Staatsanwaltschaft war der im syrischen Damaskus geborene Mann, der zuletzt in Österreich lebte, am frühen Morgen des 13. Oktober vergangenen Jahres mit den aus der Türkei und aus Syrien stammenden Migranten auf dem Weg von Österreich nach Bayern. Drei Scouts sollen in einem anderen Fahrzeug die Schleusung abgesichert haben.
Der Angeklagte habe bei seinen Fahrten billigend in Kauf genommen, dass die ungesicherten Insassen im Falle eines Unfalls lebensgefährliche oder tödliche Verletzungen erleiden könnten, sagte Staatsanwalt Markus Andrä. Es sei dem Angeklagten darum gegangen, sich eine Einnahmequelle „von einigem Umfang“ zu schaffen.
Laut Anklage hat der Mann für drei vorangegangene Schleusungen rund 14.000 Euro kassiert. Bei diesen Fahrten brachte er demnach insgesamt 46 Menschen nach Bayern – laut Andrä unter ebenfalls für sie lebensgefährlichen Bedingungen. Wie viel Geld der Mann für die letzte Fahrt bekommen sollte, war unklar. Er hatte zuvor als Paketfahrer 1.900 Euro im Monat verdient. Den Job hatte er gekündigt, um - so sagte er - einen Beruf zu lernen. Schreiner habe er werden wollen, es haperte aber mit den Sprachkenntnissen.
In jener Oktobernacht wurde eine zivile Streife auf den Kleinbus aufmerksam und forderte den Fahrer zum Anhalten auf. Dieser habe stattdessen, so die Staatsanwaltschaft, beschleunigt und sei mit Tempo 180 über die Autobahn Richtung München gerast.
Der Polizeibeamte in dem zivilen Fahrzeug berichtete vor Gericht, nach mehreren riskanten Fahrmanövern habe er sich mit seiner Kollegin entschlossen: „Wir warten auf Unterstützung.“ Er habe nicht mehr überholen wollen, um nicht eine erneute gefährliche Situation zu riskieren.
An der Ausfahrt Waldkraiburg/Ampfing dann der Unfall. Den nachfolgenden Beamten und den wenig später eintreffenden Rettungskräften bietet sich ein chaotisches Bild. Schreiende Menschen, einige schwer verletzt, Tote, darunter ein Kind. Es sei eine belastende Situation gewesen, sagte die Polizeibeamtin, die mit einem Kollegen die Verfolgung aufgenommen hatte und somit mit ihm zuerst am Unfallort war.
Einer der Verletzten erlitt nach Angaben der Staatsanwaltschaft vom Juli einen bleibenden Hirnschaden, der ihm jegliche Form der Kommunikation und Fortbewegung unmöglich macht. Er sei nicht ansprechbar und werde intensivmedizinisch versorgt. Der mit einem Sicherheitsgurt geschützte Angeschuldigte habe sich selbst nur einen Armbruch und Prellungen zugezogen.
Als Vertreterin der Eltern eines Getöteten aus der Türkei, die Nebenkläger sind, ist dessen Cousine zum Prozess gekommen. „Er hat den Traum gehabt, sich hier ein Leben aufzubauen“, sagt sie. Dafür, so meint sie, hätte es auch andere Wege gegeben. „Über ein Arbeitsvisum hätte es klappen können.“
Warum sich ihr kurdischstämmiger Cousin, der eine gute Schulbildung gehabt habe, für den Weg über die Schleusung entschied, sei für sie nicht ganz klar. Die Familie, insbesondere die Mutter, sei dagegen gewesen.
Staatsanwalt Andrä, der die Ermittlungen geleitet und koordiniert hatte, berichtete bei der Anklageerhebung im Juli über immer häufigere Fälle, in denen 15 bis 25 Menschen ungesichert in Kleintransportern eingeschleust werden. „Die Täter werden immer menschenverachtender und rücksichtsloser“, sagte Andrä damals. Es häuften sich Fluchten vor Polizeikontrollen mit hochgefährlichen Fahrweisen. Teils würden auch Polizeiautos gerammt, oder auf Beamte zugefahren.
Für den Prozess gegen den 25-Jährigen sind insgesamt sechs Verhandlungstage bis zum 5. November angesetzt. Die drei mutmaßlichen Scoutfahrer sind gesondert wegen Einschleusens mit Todesfolge angeklagt. Gegen sie soll ab 23. Oktober in Traunstein verhandelt werden.
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