Alfred Gislason hatte keine Lust auf eine ausschweifende Silberparty. Der Handball-Bundestrainer verbrachte den letzten Olympia-Abend lieber alleine in der Altstadt von Lille. „Abschlussfeiern und so ist nichts für mich. Einfach ab nach Hause“, sagte der Isländer vor dem Rückflug in die Heimat.
Als der 64-Jährige in den Flieger stieg, dürfte der Schädel seiner Schützlinge noch ordentlich gebrummt haben. Anders als ihr Trainer ließen es die deutschen Handballer nach ihrem sensationellen zweiten Platz bei den Olympischen Spielen krachen. Erst bei der Abschlusszeremonie, später mit einigen Kaltgetränken im Deutschen Haus.
Beim Medal Walk nach Mitternacht war der Frust über die dänische Abreibung längst vergessen. „Drauf geschissen“, posaunte Routinier Kai Häfner auf der Bühne ins Mikrofon und gab den Startschuss für eine ausgelassene Party. Im Hintergrund bestellte Teamkollege Rune Dahmke per Handzeichen schon die ersten Biere. Saxofonist Andre Schnura heizte den Spielern ein, dann ging es an die Theke.
Nach überraschend erfolgreichen Olympia-Tagen blickt der Deutsche Handballbund voller Optimismus auf die nächsten Jahre. Dass das jüngste und unerfahrenste aller Olympia-Teams seine Heimreise mit einer Silbermedaille antritt, lässt den Verband von einer titelreichen Zukunft träumen. Die Heim-WM 2027 könnte ein Wintermärchen werden.
Das wissen auch die Spieler. „Es ist noch viel mehr drin“, versicherte Linksaußen Dahmke, der mit 31 Jahren einer der Ältesten im deutschen Olympia-Aufgebot war. „Wenn wir uns alle gemeinsam so weiter entwickeln wie in den letzten sechs Monaten, dann ist da noch sehr viel Potenzial und dann kommen vielleicht da auch noch ein paar Medaillen mehr“.
Auch wenn der desolate Finalauftritt gegen Olympiasieger Dänemark einen anderen Eindruck hinterließ: Die deutschen Handballer haben einen Schritt nach vorn gemacht und die Lücke zur Weltspitze mit Siegen über Schweden, Europameister Frankreich und Angstgegner Spanien weiter geschlossen. „Die Mannschaft ist jetzt deutlich weiter. Die ist viel stabiler“, lobte Gislason und sprach von einer „sehr guten Entwicklung“ seit der Heim-EM im Januar.
Wenn die Handball-Teams ab dem 14. Januar in Kroatien, Dänemark und Norwegen um den WM-Titel spielen, blickt die Konkurrenz mit anderen Augen auf das unbekümmerte deutsche Team. „Wenn man die Mannschaft sieht, kann es nur besser werden. Wir stehen ohne Erfahrung da, knacke-jung. Für die meisten war es die erste Olympia-Teilnahme. Ich sehe uns in einer sehr schönen Position, wo wir selbst entscheiden, was wir in der Zukunft machen“, sagte Jungstar Renars Uscins.
Wohl kaum ein anderer Spieler verkörpert Gislasons Philosophie so sehr wie Uscins. Da in den zurückliegenden Jahren viele Routiniers der Nationalmannschaft den Rücken kehrten - mal verletzungsbedingt mal aus familiären Gründen -, war der Trainer als Architekt und Entwicklungshelfer gefordert und setzte voll auf junge Talente. Neulinge wie die U21-Weltmeister Uscins (22) und Torhüter David Späth (22) hatten blitzartig keinen Welpenschutz mehr und mussten stattdessen Verantwortung übernehmen.
Mit Erfolg. Vor allem Uscins avancierte bei Olympia zu einem Führungsspieler. Das Sechs-Sekunden-Wunder von Lille, bei dem das Rückraum-Ass die deutsche Auswahl mit der Schlusssirene in die Verlängerung rettete, wird für immer mit seinem Namen verbunden bleiben. „Wir haben eine Mannschaft, die Zukunft hat. Die vielversprechend ist und die nicht das letzte Mal in einem Finale gestanden hat“, kündigte Torhüter Andreas Wolff an.
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