Es ist ein weiterer Rückschlag in zunehmend isolierter Lage: Der Internationale Gerichtshof hat Israel zu einer sofortigen Beendigung seines Militäreinsatzes in Rafah verpflichtet.
Mit der Entscheidung entsprach das höchste Gericht der Vereinten Nationen in Den Haag teilweise Forderungen, die Südafrika in einem Eilantrag gestellt hatte. Entscheidungen des Weltgerichts sind bindend. Allerdings besitzen die UN-Richter keine Machtmittel, um einen Staat zur Umsetzung zu zwingen.
Nach Auffassung der Richter ist die humanitäre Lage in Rafah im südlichen Gazastreifen inzwischen desaströs. Weitere Maßnahmen seien nötig, um weiteren Schaden für die Zivilbevölkerung abzuwenden. Das Gericht forderte von Israel nun „in Übereinstimmung mit seinen Verpflichtungen aus der Völkermordkonvention und in Anbetracht der sich verschlechternden Lebensbedingungen der Zivilbevölkerung im Verwaltungsbezirk Rafah, seine Militäroffensive und jede andere Aktion im Verwaltungsbezirk Rafah unverzüglich einzustellen, die den Palästinensern im Gazastreifen Lebensbedingungen auferlegen könnte, die ihre physische Zerstörung ganz oder teilweise herbeiführen könnten“.
Nach der Aufforderung des Gerichtshofs an Israel erwartet UN-Generalsekretär António Guterres einen Stopp des Militäreinsatzes. „Der Generalsekretär erinnert daran, dass Entscheidungen des Gerichtshofs gemäß der Charta und der Satzung des Gerichtshofs bindend sind, und vertraut darauf, dass die Parteien der Anordnung des Gerichtshofs ordnungsgemäß nachkommen werden“, teilten die Vereinten Nationen mit.
Israel erklärte, es halte die von Südafrika geäußerten Völkermord-Vorwürfe für „falsch, empörend und abscheulich“. In einer Stellungnahme des Außenministeriums und des Büros für nationale Sicherheit hieß es, Israel habe nach dem Terrorangriff vom 7. Oktober einen „gerechten Verteidigungskrieg“ begonnen, um die Hamas zu eliminieren und die Geiseln zu befreien. Israel werde seine Bemühungen fortsetzen, humanitäre Hilfe in den Gazastreifen zu lassen und im Einklang mit dem Gesetz handeln, um den Schaden für die Zivilbevölkerung so weit wie möglich zu verringern.
Dass Israel die Aufforderung zur Beendigung des Rafah-Einsatzes umsetzt, ist unwahrscheinlich. Regierungssprecher Avi Hyman hatte am Donnerstag zu einer solchen Forderung gesagt: „Keine Macht der Welt wird Israel daran hindern, seine Bürger zu schützen, und gegen die Hamas in Gaza vorzugehen. Wir werden die Hamas zerstören, wir werden Frieden und Sicherheit für die Menschen in Israel und die Menschen in Gaza wiederherstellen. Wir können kein Regime an unserer südlichen Grenze dulden, das Völkermord anstrebt.“
Seit Anfang Mai rückt die israelische Armee internationaler Kritik zum Trotz in Rafah vor - wo zeitweise mehr als eine Million Menschen wegen der Kampfhandlungen in anderen Teilen des Gazastreifens Schutz gesucht hatten. Israel bezeichnet sein umstrittenes militärisches Vorgehen dort als vorsichtig und begrenzt, auch aus Sicht des Verbündeten USA hat der Einsatz bislang nicht das Ausmaß erreicht, vor dem Israel gewarnt wurde. Das UN-Gericht sprach ausdrücklich von einer Bodenoffensive in Rafah.
Neben dem Ende der Offensive verlangten die Richter von Israel ein Offenhalten des Grenzübergangs Rafah für dringend benötigte humanitäre Hilfe. Israel soll Untersuchungen der Vereinten Nationen hinsichtlich von Völkermordvorwürfen im Gazastreifen ermöglichen. Außerdem soll Israel binnen eines Monats einen Bericht über alle getroffenen Maßnahmen vorlegen.
Die UN-Richter können nach einer erfolgten Entscheidung den UN-Sicherheitsrat aufrufen, in der Sache tätig zu werden. Alle Mitgliedstaaten des Gerichts sind verpflichtet, die Entscheidungen des Sicherheitsrats zu respektieren. Es scheint aber zumindest fraglich, ob die USA bei einer entsprechenden Resolution zum Rückzug Israels aus Rafah auf ihr Vetorecht verzichten würden.
Die Forderung der UN-Richter nach einem Ende der Militäroperation ist für Israel ein weiterer schwerer Rückschlag, nachdem vor einigen Tagen erst der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs Haftbefehle gegen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Joav Galan beantragt hatte. Darauf folgte die angekündigte Anerkennung Palästinas als eigenen Staat durch Norwegen sowie die beiden EU-Länder Irland und Spanien.
Die palästinensische Autonomiebehörde rief - wie auch die islamistische Hamas - nach der Entscheidung die internationale Gemeinschaft auf, Druck auf Israel auszuüben. Die internationale Gemeinschaft solle Israel zur Umsetzung des Beschlusses zwingen, hieß es in einer am Freitag in Ramallah veröffentlichten Stellungnahme. Die Behörde sehe in der Entscheidung des Gerichts die Auffassung bestätigt, dass Israel Kriegsverbrechen verübe.
Südafrika hatte bereits mehrfach im Eilverfahren Maßnahmen gegen Israel gefordert. Dies geschieht im Rahmen der Völkermord-Klage, die das Land vor dem Gerichtshof im Dezember eingereicht hatte. In zwei Eilentscheidungen hatten die UN-Richter Israel bereits verpflichtet, alles zu tun, um einen Völkermord zu verhindern und humanitäre Hilfe zuzulassen. Schon lange vor dem Gang zum IGH hatte Südafrika den Palästinensern seine Solidarität versichert. Präsident Cyril Ramaphosa betonte, dass seine Partei, die in Südafrika gegen das Apartheid-System gekämpft habe, an der Seite der Palästinenser stehe. Der einzige Ausweg für die Probleme im Nahen Osten sei die Zweistaatenlösung.
Israel hatte Vorwürfe des Völkermords im Gazastreifen vor dem Internationalen Gerichtshof als haltlos zurückgewiesen. Die von Südafrika vorgebrachten Vorwürfe seien eine „Verdrehung der Wirklichkeit“. Israel beruft sich auf sein Recht auf Selbstverteidigung, nachdem Terroristen der Hamas und anderer extremistischer Gruppen am 7. Oktober den Süden Israels überfallen und 1200 Menschen getötet hatten.
In Rafah will Israel die letzten dort verbliebenen Bataillone der Hamas zerschlagen. Nach Informationen der „Times of Israel“ halten sich noch 300.000 bis 400.000 Zivilisten in Rafah auf. Die Zahl der Toten im Gazastreifen beläuft sich laut der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde inzwischen auf 35 800. Zudem ist von mehr als 80.000 Verletzten die Rede.
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