„Hier herein“, sagt Sven Wagner und kichert. Der Mann hat gut lachen: Er weiß, was jetzt kommt. Seine Gäste ahnen es nur. „Freak Circus“ ist das diesjährige Motto seines Halloween-Hauses in Duisburg. Für den Rundgang durchs Grusel-Labyrinth gibt es erstmals 3D-Brillen. Durch schummriges Licht tastet man sich vorwärts.
Plötzlich springt ein wild gewordener Affe hervor. Schnell weiter, vorbei an der unheimlichen Wahrsagerin, zu einer Wand mit Blut bespritzten Masken, von denen eine plötzlich den Kopf vorstreckt. Spätestens wenn die Besucher durch den Spinnengang zum höhnisch lachenden Monster-Clown vorgestoßen sind, dürften sie sich fragen, wie viel Horror eigentlich auf ein einziges deutsches Reihenhaus-Grundstück passt.
Sven Wagner (47), von Beruf Anlagenmechaniker für Heizungs- und Klimatechnik, ist einer der größten Halloween-Fans in Deutschland. Jedes Jahr stellt er sein Haus unter ein neues Motto: einmal war es das „Insane Hospital“, ein anderes Mal das „Holmes Hotel“, benannt nach dem frühen amerikanischen Serienmörder Henry Howard Holmes (1861-1896).
Der Weg des Grauens führt durch Flur, Keller, Garten, drei Zelte und Garage, alles bevölkert von insgesamt 20 Erschreckern, die Wagner teils aus seinem Freundeskreis rekrutiert, teils über ein Casting anwirbt. Den ganzen Aufwand betreibt er nur für einen einzigen Abend. Der Schauder-Spaß ist so beliebt, dass man die kostenlosen Karten online vorbuchen muss – 653 Personen haben das für diesen Freitag schon getan.
Für Wagner ist Halloween der schönste Tag des Jahres. Schöner als Weihnachten? „Sowieso!“ Fest steht: Halloween hat viele Fans. Aber auch viele Gegner. Ein Fest, an dem sich die Geister scheiden: Die einen lieben es, die anderen hassen es. Halloween-Verächter sehen das Fest als billigen Kommerz, Verschandelung des Straßenbilds und die deutsche Kultur gefährdenden US-Import – schließlich war Deutschland in den 70er- und 80er-Jahren noch eine kürbisfreie Zone, der 31. Oktober einzig und allein Reformationstag.
Halloween kannte man damals nur aus Hollywood-Filmen. Unvergesslich die Szene, in der E.T. als Gespenst verkleidet an Halloween ein Kind im Meister-Yoda-Kostüm trifft und sich an sein Zuhause erinnert fühlt. Hierzulande verkleidete man sich damals ausschließlich zu Karneval und Fasching, und Kinder gingen höchstens zu St. Martin von Haus zu Haus, um Süßigkeiten zu erbitten. Mit Streichen – „trick or treat“ oder zu Deutsch: „Süßes oder Saures“ – wurde schon gar nicht gedroht. So hätte es nach Meinung der Halloween-Gegner bleiben können.
In der Anfangsphase standen auch die Kirchen dem „heidnischen“ Fest kritisch gegenüber, doch das ist nicht mehr so. Die Deutsche Bischofskonferenz hat keine Meinung zu Halloween, und eine Sprecherin der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) teilt in versöhnlichen Worten mit: „Halloween ist ein beliebtes, vor allem von Familien geschätztes Brauchtum, das mit Kreativität und Gemeinschaft Freude bereitet.“
Professor Manfred Becker-Huberti ist Brauchtumsforscher und erfolgreicher Buchautor. „Ich gehöre keinem der beiden Lager an, sondern beobachte einfach, was sich da abspielt“, betont er. Richtig sei auf jeden Fall, dass Deutschland das Halloween-Fest aus den USA importiert habe. Ist es also das, was man heute als kulturelle Aneignung bezeichnet? Wenn, dann hätten die Amerikaner sich Halloween zuerst angeeignet, denn ursprünglich stammt es aus Irland. Irische Einwanderer brachten es mit, als sie in Amerika ein neues Leben begannen. Becker-Huberti findet nicht, dass man sagen kann, Halloween gehöre nicht zu Deutschland. „Brauchtum ist nichts Statisches, das verändert sich ständig.“
Manchmal wird behauptet, die Spielzeug- und Süßwarenindustrie habe Halloween gezielt groß gemacht, um ihren Umsatz zu fördern. Auch das überzeugt den Wissenschaftler nicht: „Klar, damit lässt sich was verdienen. Aber wenn die Gesellschaft nicht aufnahmebereit gewesen wäre, dann hätte das nie und nimmer funktioniert.“
Was aber macht das Fest für viele nun so attraktiv? Sicher kommen mehrere Dinge zusammen. Es fällt in eine Zeit, die arm ist an Höhepunkten – zwischen dem Ende des Sommerurlaubs und Weihnachten. Da war einfach noch Platz. Dazu kommt der Spaß am Verkleiden. Was Halloween aber am meisten kennzeichnet, ist der Grusel-Faktor. Manche finden das vulgär und abstoßend. Aber genau der Geister-Aspekt hat eine lange Tradition.
Im Spätherbst, wenn die Ernte abgeschlossen und das Jahr somit eigentlich zu Ende war, setzten sich Menschen seit jeher mit dem Tod und mit den Toten auseinander. „Immer schon waren sie davon überzeugt, dass es Bruchkanten gibt zwischen dem Diesseits und dem Jenseits“, erklärt Becker-Huberti. „Nämlich an den Stellen, an denen die eine Phase endet und eine neue beginnt. An solchen Nahtstellen werden Dinge sichtbar, die ansonsten mit unserer Welt nichts zu tun haben – die Toten, die Geister kommen hervor.“
Halloween bietet die Möglichkeit, für einen Abend selbst zu dem zu werden, wovor man normalerweise Angst hat: Monster, Geister, das Böse, der Tod. „Das ist eine weltweit praktizierte Form, sich mit diesem Phänomen zu befassen“, sagt Becker-Huberti. So wird in Mexiko am 1. und 2. November der „Día de los Muertos“, der Tag der Toten, zelebriert. In Deutschland sind diese Tage als Allerheiligen und Allerseelen bekannt. „Halloween“ bedeutet „All Hallows’ Eve“, der Abend vor Allerheiligen.
Es gibt sogar noch einen weiteren Grund, der für Halloween spricht. Einer, der oft übersehen wird: Während andere Feste - besonders Weihnachten - mit Erwartungen überfrachtet sind, ist Halloween relaxt. Wenn's nett wird, schön, wenn nicht, auch kein Problem. Man muss nicht groß kochen, man braucht keine Geschenke, nur ein paar Süßigkeiten zum Verteilen. Und man muss sich nicht mit den lieben Verwandten rumärgern. Letzteres dürfte für manche der ungleich größere Horror sein.
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