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Veröffentlicht am 01.06.2024 06:27

Wie neue Chancenkarte Erwerbsmigranten anlocken soll

Ziel der Reise von Nancy Faeser (SPD, M) und Hubertus Heil (SPD, 2.v.r.) nach Kanada waren Gespräche zu Methoden zur Gewinnung ausländischer Fachkräfte. (Foto: Britta Pedersen/dpa)
Ziel der Reise von Nancy Faeser (SPD, M) und Hubertus Heil (SPD, 2.v.r.) nach Kanada waren Gespräche zu Methoden zur Gewinnung ausländischer Fachkräfte. (Foto: Britta Pedersen/dpa)
Ziel der Reise von Nancy Faeser (SPD, M) und Hubertus Heil (SPD, 2.v.r.) nach Kanada waren Gespräche zu Methoden zur Gewinnung ausländischer Fachkräfte. (Foto: Britta Pedersen/dpa)

In vielen Branchen funktioniert der Arbeitsmarkt in Deutschland längst nur dank Menschen mit ausländischen Wurzeln. Vergangenes Jahr stieg die Zahl der Aufenthaltstitel eingewanderter Erwerbstätiger aus Nicht-EU-Staaten um 68.000 auf 419.000.

Trotzdem wächst die Fach- und Arbeitskräftelücke. Angesichts des Mangels will die Regierung bei der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte Tempo machen: Deutschland soll so erfolgreich werden wie Kanada, Neuseeland oder Australien. Heute tritt der dritte Teil des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes in Kraft - was er bringt:

Wie viele Fachkräfte fehlen in Deutschland?

Sieben Millionen Fachkräfte müssten wegen des Älterwerdens der Gesellschaft bis 2035 ersetzt werden, sagt Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD). Besonders gravierend ist der Mangel beispielsweise in der Pflege und der Gastronomie. IT-Fachleute fehlen in vielen Unternehmen und auch in den Behörden. Wegen des mageren Verlaufs der Konjunktur waren bei der Bundesagentur für Arbeit im März zwar nur noch 707.000 offene Stellen gemeldet, 70.000 weniger als vor einem Jahr.

Doch längerfristig erwartet Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), dass wohl immer mehr Stellen und Ausbildungsplätze zunächst offen bleiben. Diese besetzen zu können, entscheide perspektivisch darüber, „ob Deutschland wächst und der Wohlstand im Lande sich mehren kann beziehungsweise erhalten wird“. Heute hat rund ein Viertel aller Erwerbstätigen einen Migrationshintergrund - ein überdurchschnittlich hoher Anteil etwa in Reinigungsberufen und der Gastronomie.

Was ist ab 1. Juni neu?

Die mit dem Fachkräfteeinwanderungsgesetz im vergangenen Jahr beschlossene Chancenkarte tritt in Kraft. Sie richtet sich an Menschen, die nicht aus der Europäischen Union stammen. Dieses neue Instrument im Aufenthaltsgesetz soll den Zuzug qualifizierter Arbeitskräfte nach Deutschland erleichtern. Ein Vertrag mit einem Arbeitgeber in Deutschland ist keine Voraussetzung.

Ausgeweitet werden ab dem 1. Juni außerdem die Möglichkeiten für Arbeitskräfte aus den Westbalkanstaaten, für einen Job nach Deutschland zu kommen. Davon können auch Ungelernte profitieren. Allerdings müssen alle, die über die sogenannte Westbalkanregelung einreisen wollen, vorab einen Arbeitsvertrag nachweisen.

Wie funktioniert die Chancenkarte?

Grundvoraussetzungen sind aber eine im Erwerbsland staatlich anerkannte, mindestens zweijährige Berufsausbildung oder ein entsprechender Hochschulabschluss sowie Sprachkenntnisse in Deutsch oder Englisch. Je nach Sprachkenntnis, Berufserfahrung, Alter und Deutschlandbezug bekommen Interessierte Punkte, die sie zum Erhalt der Chancenkarte berechtigen. Auch für Qualifikationen in Engpassberufen gibt es Punkte. Mit der Karte können Nicht-EU-Ausländer dann nach Deutschland kommen und haben dann ein Jahr lang Zeit, sich einen festen Job zu suchen. Unter bestimmten Voraussetzungen ist eine einmalige Verlängerung um zwei Jahre möglich.

Und was ist neu bei der Westbalkanregelung?

Diese Regelung erleichtert den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt für Staatsangehörige aus Albanien, Bosnien und Herzegowina, dem Kosovo, Nordmazedonien, Montenegro und Serbien. Bislang werden für Arbeitskräfte aus diesen Staaten, die eine Jobzusage haben, von der Bundesagentur für Arbeit pro Jahr 25.000 Genehmigungen vergeben. Dieses Kontingent soll auf 50.000 Zustimmungen jährlich verdoppelt werden.

Gibt es das Fachkräfteeinwanderungsgesetz nicht schon länger?

Tatsächlich hat Deutschland schon seit März 2020 ein Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das die schwarz-rote Koalition beschlossen hatte, um den Zuzug von qualifizierten Arbeitskräften aus Nicht-EU-Staaten zu fördern. Nach Einschätzung von Experten blieb seine Wirkung einerseits wegen der Reisebeschränkungen durch die Corona-Pandemie, andererseits wegen des nach wie vor hohen bürokratischen Aufwands für die Erwerbsmigranten begrenzt.

Im vergangenen November trat dann der erste Teil der von der Ampel-Koalition beschlossenen Reform des Gesetzes in Kraft. Die erste Stufe umfasste vor allem Erleichterungen bei der „Blauen Karte EU“ und bei anerkannten Fachkräften.

Und was gilt seit März?

Die Aufenthaltsmöglichkeit für Ausländer aufgrund berufspraktischer Erfahrung - ein Herzstück des Gesetzes zur Fachkräfteeinwanderung. Fachkräfte mit Abschluss und Berufserfahrung können ohne vorheriges Anerkennungsverfahren einreisen und in Deutschland arbeiten. Sie müssen also noch keine in Deutschland anerkannte Ausbildung vorweisen. Das soll den bürokratischen Aufwand senken und Verfahren verkürzen.

Das Arbeitsplatzangebot in Deutschland muss ein Bruttojahresgehalt von mindestens 40.770 Euro zusichern - bei Tarifbindung des Arbeitgebers genügt eine Entlohnung entsprechend dem Tarifvertrag. Zur Deckung von zeitweilig besonders hohem Arbeitskräftebedarf wurde eine begrenzte kurzzeitige Beschäftigung ermöglicht. Die Bundesagentur für Arbeit hat hierfür für das Jahr 2024 ein Kontingent von 25.000 festgelegt.

Werden diese Reformen mehr Arbeitskräfte locken?

Die Möglichkeiten für die Zuwanderung seien nun so vielfältig wie die Bedürfnisse der Unternehmen, so Heil. Doch gibt es neben teils hohen Anforderungen und bürokratischen Hindernissen noch andere Schwierigkeiten. Nicht zufällig macht sich Migrationsbeauftragte Reem Alabali-Radovan (SPD) stark für „smarte, digitale Behördenverfahren“, „Integration von Anfang an in Kitas, Deutschkurse oder Arbeitsmarkt“ und „konsequenten Antirassismus“.

Angesichts des Arbeitskräftemangels von über 400.000 Menschen pro Jahr sei die Chancenkarte in erster Linie eine Chance für Deutschland, meint die Grünen-Innenpolitikerin Misbah Khan. Deutschland müsse die Änderungen mit Leben füllen - und als Einwanderungsland noch attraktiver werden.

Was schreckt Migranten außer der Sprache noch ab?

Im Vergleich zu anderen klassischen Einwanderungsländern ist die Steuern- und Abgabenlast in der Bundesrepublik relativ hoch. Das schreckt besonders Hochqualifizierte ab. Außerdem hat sich inzwischen herumgesprochen, dass es in einigen Ballungsgebieten schwierig ist, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Aus einigen Kommunen war zuletzt zu hören, Vermieter fragten bei neu zuwandernden ausländischen Interessenten teilweise nach einer Bürgschaft des Arbeitgebers.

Könnte es demnächst noch weitere Reformen geben?

„Wir sind als Gesetzgeber aber auch noch nicht ans Ende gekommen“, meint Ann-Veruschka Jurisch, Innenexpertin der FDP im Bundestag. „Wir haben uns vorgenommen, das Ausländerrecht zu vereinfachen; das bleibt weiterhin eine offene Aufgabe“, sagt die Abgeordnete. Große Hoffnung setzt sie in die Nutzung Künstlicher Intelligenz bei der Bearbeitung von Anträgen potenzieller Erwerbsmigranten. Das Auswärtige Amt leiste hier bereits Pionierarbeit. Das sei auch notwendig - heutige Wartezeiten von über einem Jahr könne sich Deutschland nicht leisten.

© dpa-infocom, dpa:240601-99-235650/3


Von dpa
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