Erstes Urteil: Wirecard-Bilanzen waren falsch | FLZ.de | Stage

arrow_back_rounded
Lesefortschritt
Veröffentlicht am 05.05.2022 11:46

Erstes Urteil: Wirecard-Bilanzen waren falsch

Der ehemalige Vorstandsvorsitzende von Wirecard, Markus Braun, im Herbst 2020 vor dem Wirecard-Untersuchungsausschuss des Bundestages. (Foto: Fabrizio Bensch/Reuters Images Europe/Pool/dpa)
Der ehemalige Vorstandsvorsitzende von Wirecard, Markus Braun, im Herbst 2020 vor dem Wirecard-Untersuchungsausschuss des Bundestages. (Foto: Fabrizio Bensch/Reuters Images Europe/Pool/dpa)
Der ehemalige Vorstandsvorsitzende von Wirecard, Markus Braun, im Herbst 2020 vor dem Wirecard-Untersuchungsausschuss des Bundestages. (Foto: Fabrizio Bensch/Reuters Images Europe/Pool/dpa)

Das Landgericht München hat in einem Zivilverfahren die Bilanzen des Skandalkonzerns Wirecard der Jahre 2017 und 2018 für nichtig erklärt.

Die Kammer gab am Donnerstag einer Klage des Insolvenzverwalters Michael Jaffé statt. Nichtig sind damit auch die Dividendenbeschlüsse für die beiden Jahre. Grundlage der Klage waren die mutmaßlichen Scheinbuchungen, mit denen Wirecard-Manager die Bilanzen um erfundene Milliardenbeträge aufgebläht haben sollen.

Sollte das Urteil rechtskräftig werden, könnte der Insolvenzverwalter damit die von Wirecard für die beiden Jahre gezahlten Dividenden in zweistelliger Millionenhöhe von den Aktionären zurückfordern, ebenso von Wirecard gezahlte Steuern. Munition liefert das Urteil aber auch für die knapp 1000 Klagen empörter Aktionäre gegen die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY, die die Wirecard-Bilanzen geprüft und testiert hatte.

Der Konzern war 2020 nach dem Eingeständnis von Scheinbuchungen in Höhe von 1,9 Milliarden Euro zusammengebrochen, der frühere Vorstandschef Markus Braun sitzt seit bald zwei Jahren in Untersuchungshaft. Wirecard hatte 2017 und 2018 hohe Gewinne von zusammen mehr als 600 Millionen Euro ausgewiesen, und für beide Jahren in Summe 47 Millionen Euro Dividenden ausgeschüttet.

Ein Hauptnutznießer der Dividendenbeschlüsse war der seit bald zwei Jahren in Untersuchungshaft sitzende Braun. Denn der österreichische Manager war nicht nur Vorstandschef, sondern mit acht Prozent der Anteile auch Großaktionär. Ex-Konzernchef Braun als Person war von Jaffè gar nicht verklagt worden, nur die als rechtliche Hülle ohne Vorstand und Aufsichtsrat weiter existierende Wirecard AG. Doch war Braun dem Verfahren dann selbst beigetreten.

Der Insolvenzverwalter machte dann auch deutlich, dass er bei möglichen Dividendenrückforderungen Braun und andere große Anleger ins Visier nehmen will, nicht jedoch die Kleinaktionäre. „Klein- und Privatanleger werden insoweit nicht maßgeblich berührt sein“, teilte Jaffès Kanzlei mit.

Die Münchner Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass die bis heute vermissten 1,9 Milliarden Euro frei erfunden waren. Braun hingegen verteidigt sich mit dem Argument, die 1,9 Milliarden gebe es, das Geld sei aber andernorts verbucht gewesen.

Ob die fehlenden Milliarden nun existieren oder nicht, war für das Urteil gar nicht von Bedeutung, wie der Vorsitzende Richter Helmut Krenek erläuterte. Um die Bilanzen für nichtig zu erklären, genügte die Feststellung, dass das Geld nicht dort auffindbar war, wo es laut Wirecard verbucht war: auf Treuhandkonten in Singapur.

„Wenn es die Gelder gegeben hätte, hätten sie auch dort gefunden werden müssen“, sagte Krenek. Und weil die Wirecard-Bilanzen falsch waren, waren als „zwingende Folge“ auch die Dividendenbeschlüsse der Hauptversammlungen 2018 und 2019 nichtig, wie der Vorsitzende weiter ausführte.

Die Aktionärsvereinigung DSW sieht mit dem Urteil gestiegene Erfolgschancen für die knapp 1000 Klagen gegen EY. Nach Argumentation Brauns sei das Geld „irgendwo ganz anders“, sagte DSW-Vizepräsidentin Daniela Bergdolt. „Aber auch dann ist die Buchhaltung, die Buchführung von Wirecard grottenfalsch gewesen. Auch das hätten sie“ - die EY-Prüfer - „dann merken müssen.“

EY betonte in einer Stellungnahme hingegen, die Arbeit der Prüfer sei nicht Gegenstand des Verfahrens gewesen: „EY Deutschland beziehungsweise EY-Mitarbeiter sind nicht Partei beziehungsweise Beklagte dieses Rechtsstreits.“

Die Münchner Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass Braun und Komplizen mit Hilfe der falschen Bilanzen bei Banken und Investoren Milliarden erschwindelten. Braun hingegen sieht sich als Opfer von Betrügern im Unternehmen. Eine Schlüsselfigur des Skandals ist der frühere Vertriebsvorstand Jan Marsalek, der sich im Sommer 2020 absetzte und bis heute untergetaucht ist. Die Geschäftsberichte wurden sowohl von den Vorständen als auch von den Prüfern unterschrieben, die damit für die Richtigkeit der Zahlen bürgten.

Verbucht waren später vermisste Gelder in den beiden Jahren angeblich bei der Bank OCBC in Singapur - Ende 2017 waren es laut Urteil mehr als 700 Millionen Euro und Ende 2018 gut eine Milliarde. Die 1,9 Milliarden Euro waren vor der Wirecard-Insolvenz der Endstand, der in der nicht mehr testierten Bilanz 2019 verbucht werden sollte.

Im Juni steht Brauns nächste Haftprüfung an. Im Strafverfahren prüft das Landgericht München derzeit die Anklage gegen den Manager. Sollte die Anklage zugelassen werden, könnte der Strafprozess noch in diesem Jahr beginnen.

© dpa-infocom, dpa:220505-99-166227/5

north