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Veröffentlicht am 05.09.2024 05:02

Essstörungen bei Jugendlichen verstehen - und helfen

Zunahme von Essstörungen weltweit: Gesellschaftliche und soziale Veränderungen, verstärkt durch die Corona-Pandemie, werden als eine Ursache genannt (Foto: Vasily Pindyurin/Westend61/dpa-tmn)
Zunahme von Essstörungen weltweit: Gesellschaftliche und soziale Veränderungen, verstärkt durch die Corona-Pandemie, werden als eine Ursache genannt (Foto: Vasily Pindyurin/Westend61/dpa-tmn)
Zunahme von Essstörungen weltweit: Gesellschaftliche und soziale Veränderungen, verstärkt durch die Corona-Pandemie, werden als eine Ursache genannt (Foto: Vasily Pindyurin/Westend61/dpa-tmn)

Magersucht, Bulimie, Adipositas - seit Jahren haben Essstörungen weltweit zugenommen, seit der Corona-Pandemie noch einmal mehr. Das betrifft alle Altersklassen, vor allem aber heranwachsende Mädchen. Laut aktuellen Studien sind global bis zu 8,4 Prozent der Frauen im Alter von 18 bis 25 Jahren und bis zu 2,2 Prozent der Männer im selben Alter an einer Essstörung erkrankt, heißt es von der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie (DGPM).

Wie kommt das, und vor allem: Was können Angehörige tun, um Betroffenen zu helfen? Antworten von Professor Stephan Zipfel, Ärztlicher Direktor der Abteilung Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Medizinischen Universitätsklinik Tübingen.

Wie kommt es, dass so viele junge Menschen von Essstörungen betroffen sind?

Insgesamt nehmen seit rund 20 Jahren psychische Erkrankungen bei jungen Menschen auf der ganzen Welt zu, besonders in Industrienationen. Gründe dafür können globale Trends wie gesellschaftliche Veränderungen, soziale Medien, Kriege und der Klimawandel sein, schreiben führende Forschende im aktuellen Fachreport „The Lancet Psychiatry Commission on youth mental health“. „Diese Entwicklungen führen zu steigendem Disstress, zu Entfremdung und vermehrter Einsamkeit“, erklärt Stephan Zipfel.

„Es war vorher schon eine zunehmend belastende Gesamtsituation insbesondere für Jugendliche, und die Covid-Pandemie und die begleitenden Maßnahmen wie der Lockdown haben zu einem weiteren, sehr deutlichen Anstieg geführt“, sagt Zipfel. Die räumliche und soziale Isolation innerhalb der Kernfamilie habe dafür gesorgt, dass es mehr Stress und Konflikte gab, insbesondere für bereits zuvor belastete Gruppen. 

Und vor allem: „Es gab keine oder nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten sich mit anderen Jugendlichen auszutauschen, persönlicher Kontakt mit außerfamiliären Vertrauenspersonen wie sozialpädagogischem oder Lehrpersonal fehlte.“ Auch Beratungs- und Behandlungsangebote fielen aus, die psychische Probleme hätten frühzeitig ansprechen können. „Daraus entstand eine ganz toxische Situation, sodass die Betroffenen eine richtig ausgeprägte Essstörung entwickelt haben.“

Warum erkranken Menschen an Essstörungen?

Es geht, grob gesagt, um Kontrolle oder das Gefühl der Kontrolle, erklärt der Psychosomatik-Experte. „Wenn ich merke, dass das Leben, dass mein Leben mir aus den Händen gleitet, gibt es eine Gruppe von Menschen, die versuchen, diesen Zugriff auf ihr Leben wieder durch Kontrolle ihres Essverhaltens, ihres Gewichts zurückzugewinnen.“ Dabei spiele auch eine Rolle, dass der Appetit und die Gewichtsregulation eigentlich ein durch die Evolution sehr basal verankertes Grundbedürfnis ist. „Nur einer kleinen Gruppe von Menschen gelingt es, dieses Grundbedürfnis aushebeln zu können – diese Erfahrung der Kontrolle ist zunächst mit einem guten Gefühl für die Betroffenen verbunden.“

Und dann passiere es, dass „der Selbstwert, das Selbstbild, dass das Selbstbewusstsein zunehmend davon abhängt, wie ich meinen Körper, meinen Appetit kontrolliere“. Diese Symptomatik beschreibt Zipfel als „ich-synton, das heißt, mit der eigenen Person verbunden, eigentlich schon fast verbacken“ - in dieser Situation droht die Erkrankung zum Teil der Persönlichkeit zu werden. 

Wie findet man aus der Essstörung heraus?

Die gute Nachricht ist: Essstörungen, auch schwere Fälle, sind behandel- und heilbar, sagt Stephan Zipfel. Er berichtet von den Ergebnissen einer Nachuntersuchung zu einer Behandlungsstudie zu Psychotherapie bei Magersucht, an der er mitgearbeitet hat. Fünf Jahre nach Therapieende konnten 41 Prozent der Patientinnen als genesen eingestuft werden. „Das bedeutet: Es gab bei ihnen auch keinen Symptom-Shift, sondern sie zeigten tatsächlich weder im Bereich Essstörung noch im Bereich anderer psychischer Erkrankungen Auffälligkeiten.“ 

Aber, das muss man wissen, die Genesung ist ein Prozess, und zumeist nicht unbedingt ein ganz gradliniger. Daher empfiehlt Zipfel, dass Betroffene und Behandler frühzeitig zusammen einen sogenannten Gesamtbehandlungsplan machen, also besprechen: Welche Schritte sind notwendig, um aus der Essstörung herauszukommen? Hier helfen Techniken, die insbesondere die Behandlungsmotivation stärken. Aber auch diese ersten Schritte können anstrengend und schmerzhaft sein.

„Eine der großen Ambivalenzen für die Betroffenen ist: Lasse ich mich auf eine Therapie ein - weil dann muss ich mich auch ein Stück weit von dieser Fähigkeit, die mich ja auch stabilisiert, nämlich dass ich sehr basale Bedürfnisse kontrollieren kann, verabschieden.“ 

Daher gebe es bei Erkrankten relativ selten den Impuls, diesen Abschied von der Magersucht anzugehen: „Menschen mit einer Essstörung suchen nicht unbedingt Hilfe, sondern schotten sich häufig ab“, sagt Zipfel. „Es ist eine Herausforderung für die Familie und Freunde, wie sie mit dieser Situation umgehen.“ 

Was können Familie und Umfeld für Menschen mit Essstörung tun?

„Es ist wichtig, dass Freunde und Familie verstehen, dass sie nicht allein verantwortlich sind“, sagt Stephan Zipfel. „Wenn ich natürlich in der Situation als Eltern bin, ist das eine andere Situation als die als Vertrauenslehrer oder Lehrerin oder als Freundin. Und deswegen muss man immer gucken: Wer kann welche Verantwortung tragen?“ 

Manchmal hätten etwa Freundinnen das Gefühl, da die Betroffene nicht mit ihren Eltern spricht, seien sie verantwortlich. „Das wäre eine Überforderung“, sagt Zipfel. Was sie aber anbieten können, ist zu sagen: „Lass uns doch mal zu Frau X oder Y, unserer Schul-Sozialarbeiterin, gehen und mit der gemeinsam sprechen“.

Er empfiehlt auch Beratungsstellen: „Sie sind vergleichsweise niedrigschwellig und bieten einen professionellen Kontext, in dem Betroffene erste Unterstützung erhalten können.“ 

Wie können Familienangehörige und Vertrauenspersonen das Thema ansprechen?

Ganz wichtig: Machen Sie keine Vorwürfe und schimpfen Sie nicht. Auch gut gemeinte Ratschläge lösen oft eher Abwehr aus, sagt Zipfel. Wirksam und erfolgversprechend: die Beziehungsebene. „Wenn ich eine Beziehung zu jemandem habe, in welcher Funktion auch immer, ist es wichtig, dass ich erstmal sage: „Du, mir fällt auf, dass es dir wohl nicht gut geht, und das tut mir wiederum weh, und ich möchte dir gerne helfen und dir zur Seite stehen „.“ 

Dabei sei es nicht ungewöhnlich, wenn Betroffene einer Essstörung einen erst mal abblitzen lassen. Dann, so erklärt Stephan Zipfel, hilft es zu verstehen: Die Essstörung ist für den Betroffenen ein oft auch verzweifelter Lösungsversuch und keine schief gelaufene Interpretation von Germany's Next Topmodel. „Dann kann ich auch die Not und das Leid der Betroffenen viel besser verstehen - und kann dann auch mit einer garstigeren Reaktion besser umgehen.“ 

Informationen für Betroffene, Angehörige und Freunde gibt es bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: https://www.bzga-essstoerungen.de/. Unter der BzgA-Telefonnummer 0221 892031 kann man sich montags bis donnerstags von 10.00 bis 22.00 Uhr und freitags bis sonntags von 10.00 bis 18.00 Uhr unter anderem zu geeigneten Anlauf- und Kontaktstellen vor Ort oder in der Region beraten lassen.

© dpa-infocom, dpa:240905-930-223458/1


Von dpa
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