Auf dem Hexenwagen ist die Motorsäge einsatzbereit. Früh morgens hat sich der meterhohe Fasnachtswagen in Bewegung gesetzt. Schließlich soll am 4. Februar, wenn das Imster Schemenlaufen die ganze Stadt in einen Fasnachtstaumel versetzen wird, nichts schiefgehen.
Damit der Wagen durch die engen Gassen kommt, wurden Zäune abgebaut und Schilder weggeklappt. In der österreichischen Alpenstadt Imst - 11.000 Einwohner, am Inn gelegen, ein Hausberg namens Muttekopf - wird alles dem Gelingen der Fasnacht untergeordnet. Wenn es sein muss, werden sogar Dachgiebel abgesägt oder Regenrinnen geopfert.
Mit dem herkömmlichen Karnevals- und Faschingstreiben hat der traditionelle Schemenlauf wenig zu tun. Jede Figur ist genau vorgegeben, und Wagenbauer greifen Themen aus der Stadthistorie auf. Besucher dürfen nur zusehen - am liebsten unkostümiert.
Das Ritual wird nur alle vier Jahre zelebriert und ist eine Institution, die ihresgleichen sucht: Seit 2012 gehört das Imster Schemenlaufen zum immateriellen Kulturerbe der Unesco. Der Rheinische Karneval hat es bislang erst auf die deutsche bundesweite Unesco-Liste geschafft.
Entsprechend bemüht ist man um Authentizität: Nichts soll vom Brauchtum und der Eleganz der ursprünglichen Kostüme ablenken, über die bereits im 13. Jahrhundert geschrieben wurde. Monatelang bereiten sich die Stadtbewohner auf den Schemenlauf vor. Alles muss perfekt sitzen - bis hin zur Schrittfolge. Oft braucht es für ein Kostüm mehrere Spezialisten.
An die 900 Männer nehmen teil und teilen sich in verschiedene Maskengruppen auf, die kurios anmutende Namen tragen: Roller und Scheller, Laggeroller und Laggescheller, Hexen, Spritzer, Bären, Labara oder Kaminer. Wer mitmachen will, muss den Hauptwohnsitz und Lebensmittelpunkt in Imst haben.
Fruchtbarkeitskult, Segensbrauch, Feiern vor der Fastenzeit? Über die genauen Ursprünge des Brauchtums ist wenig bekannt. Hart und weich, männlich und weiblich, Winter und Frühling - die Lieder und Tänze während des Schemenlaufs spielen mit Gegensätzen.
„Die Darbietung der Labara ist aus dem alten Rügerecht entstanden, nach dem man einmal im Jahr die Gelegenheit hatte, etwas gegen die Obrigkeit zu sagen“, berichten unisono Martin Stillebacher, Michael Netzer und Lukas Schwetz, die zu dieser Gruppe von gut 20 Musikern in Frack und Zylinder gehören.
Jede Gruppe probt abgeschottet von den anderen, meist im Geheimen. „Viele halten uns in dieser Hinsicht für verrückt“, sagt Bernhard Moll auf dem Weg zur Vollversammlung am Dreikönigstag in der Sporthalle, dem großen Einstimmungstreffen vor dem Event, auf dem er den Hexenvater bald abgeben wird, eine Art Pantoffelheld.
„Söll mer huire in d'Fasnacht giah?“, ruft der Fasnachtsobmann. „Jaaa!“ Tief, laut und lang kommt es aus der Halle zurück. Die Stimmung ist aufgeladen, es wird gesungen. Auch Moll geht es unter die Haut, nach vier Jahren wieder das Fasnachtslied zu hören.
Außenstehende brauchen Tage, um das komplexe Brauchtum zu verstehen. Erste Lektion: Masken heißen Larven und die Kostüme Masken. Bei der Vollversammlung wird das Plakat enthüllt. Das Gschall, das sind Glöckchen und Schellen, wird ausgegeben und im großen Kreis geprobt. Wagenbauer und Handwerker legen ab jetzt Nachtschichten ein, wie Familie Klingenschmid.
Sohn Sandro gehört zu den Laggerollern und Laggeschellern, die die Roller und Scheller während des Laufs spielerisch ins Lächerliche ziehen werden. Sein Rock ist ein aufwendiges Konstrukt aus Birkenrinden, mit dem er sich gebückt und breitbeinig bewegen muss.
Bei Familie Pfefferle sitzt Mama Claudia stundenlang an der Nähmaschine. Sohn Jakob ist das erste Mal als Hexe dabei und wird standesgemäß ausgestattet - vom Einstecktuch mit gestickten Initialen bis hin zu den gestrickten Tuttenstrümpfen ist alles selbst gemacht.
Larvenschnitzer Walter Zangerle arbeitet mit Zirbenholz, damit der Träger keine blutigen Stellen bekommt. Edel und nicht angsteinflößend wie andere Fratzen von Winteraustreibungsbräuchen in den Alpen sollen die Larven außerdem sein. Frauen wie Gabriele und Pia Walser versehen sie mit hochragendem Kopfschmuck aus Draht, Perlen und Stoffblumen, die um einen Spiegel angeordnet werden. So sollen Dämonen abgeschreckt werden.
In der rund 300 Jahre alten Schmiede von Walter Scherl wird das teils mehrere Dutzend Kilo schwere erwähnte Gschall gefertigt. Dieses wird aus Stahlblech geschnitten, geformt und mit dem Hammer hohl geklopft. „Danach nieten und schweißen wir sie zusammen und tauchen sie in ein Messingbad“, so der Schmiedemeister. Durch die Dicke des Blechs gestaltet er den Ton. „Ein paar Millimeter machen einen riesigen Unterschied.“
Bei der ersten Probe werden Gschall und Sprungkraft von Roller und Scheller mit Argusaugen beobachtet. Während der Scheller die Hüften rhythmisch kreisen muss, muss der Roller hoch springen und mit den Füßen den Po berühren. Bewegungen, die Fitness und Kraft abverlangen. Manche trainieren das ganze Jahr. Andere verschieben Operationen und holen sich Spritzen gegen die Schmerzen, nur um das Spektakel nicht zu verpassen.
Während des Schemenlaufes wird auch am 4. Februar wieder getanzt, Zuschauer werden aus dem Umzug mit Wasser oder Puder bespritzt. Hexen schreien in die Menge, dissonante Musik erklingt, Bären zeigen ihre Stärke. 30.000 Besucher werden erwartet. Einige Auserwählte werden von den Hauptakteuren in den Tanzkreis geholt werden. „Das ist für uns Dank und Ehre“, sagt Gabriele Walser in Vorfreude.
Das sagt sie als Frau, denn am organisierten Schemenlauf dürfen traditionell nur Männer teilnehmen, auch wenn diese in Frauenrollen schlüpfen. Die Männer machen die Show, die Frauen wirken im Hintergrund. Auch darin unterscheidet sich der Imster Fasnachtszauber von den Bräuchen in anderen Karnevalshochburgen wie Köln, Düsseldorf oder Mainz.
Noch ist es ruhig in den Gassen von Imst. Doch am Stichtag geht es mit Volldampf um 6.30 Uhr los. Es wird erwartet, dass die Pfarrkirche rappelvoll wird. „Für diesen Anlass wurde eine eigene Messe komponiert“, sagt Markus Huter vom Liederkranz.
Um 9.30 Uhr beginnt der Aufzug am Stadtplatz. Und um Punkt zwölf dann setzen bei der Kirche alle ihre Larven auf und ziehen in Kreisen tanzend durch die Stadt.
Verspätet sich eine Gruppe, wird die Turmuhr angehalten. Denn traditionell beginnt der Schemenlauf immer mit dem Zwölfeläuten - und noch vor 18 Uhr, dem Betläuten, werden die Larven unter Freudentränen mit Trommelwirbel und Applaus wieder abgenommen.
Bis sie 2028 wieder aufgesetzt werden.
Anreise: Ab Hamburg fährt ein Nightjet der ÖBB nach Innsbruck mit Stationen unter anderem in Hannover, Nürnberg und Augsburg. Weiter mit dem Zug nach Imst.
Fasnacht mit Schemenlauf: Bei den Stadteingängen wird ein Eintrittsticket gelöst. Eintritt: 10 Euro (Vorverkauf 9 Euro; Jugendliche bis 16 Jahren frei). Am Montag, 5. Februar, feiern die Einheimischen die Wilde Fasnacht, ohne die aufwendigen Larven. Wer mehr über die Besonderheiten der Imster Fasnacht erfahren möchte, reist am besten vorab an und besucht das Museum Imster Fasnachtshaus.
Weitere Informationen: www.imst.at
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