Vorsichtig nimmt Christel Haas eine Steinrose auseinander und pflanzt die einzelnen Rosetten nach und nach in die feuchte Erde einer Anzuchtschale. „Es beruhigt mich und es macht mich froh, wenn ich Pflanzen wachsen sehe“, sagt die 88-Jährige Berlinerin.
Einen eigenen Garten hat sie schon länger nicht mehr. Die Rentnerin ist Patientin in der Geronotopsychiatrie des Evangelischen Krankenhauses Herzberge in Berlin. Dort gehört das Gärtnern zum Therapieprogramm.
Die historischen, rot geklinkerten Klinikgebäude sind umgeben von viel Grün, altem Baumbestand und liegen im Landschaftspark Herzberge. Im Garten der Gerontonpsychiatrie hat Therapeutin Marlit Bromm mit ihren Patienten Blumenbeete angelegt. In den Hochbeeten wächst junges Gemüse heran.
Christel Haas ist wegen Angstattacken in Behandlung. Andere Patienten kommen mit Depressionen, psychotischen Störungen, Ängsten, Verwirrtheitszuständen oder Verhaltensauffälligkeiten, etwa im Zuge einer Demenz, in die Klinik. Die Patienten seien oft gereizt, aggressiv oder weinten viel, sagt der ärztliche Leiter Torsten Kratz.
Die Gartentherapie könne helfen, Verhaltensstörungen zu minimieren. „Die Arbeit im Grünen hebt die Stimmung und steigert den Antrieb ganz ohne Medikamente“, so Kratz. „Durch die Gartenarbeit kommen zum Beispiel Patienten mit einer Depression wieder in Schwung, in dem sie aktiv etwas tun. Oft trauen sie sich gar nichts mehr zu.“
Bei Menschen mit Demenz wiederum helfe die Therapie durch Erinnerung. „Sie sind orientierungslos und haben die Erinnerung an ihre Vergangenheit verloren. Doch die meisten Patienten der älteren Generation haben einen Bezug zur Natur, haben ihre Finger schon einmal im Erdboden gehabt und sei es nur beim Kohlrübenstehlen im Krieg“, so der Arzt.
Das Gärtnern biete Halt und Orientierung, allein schon durch den vertrauten, immer wiederkehrenden Lauf der Jahreszeiten, ergänzt Gartentherapeutin Bromm. Ein weiterer positiver Effekt: „Die Patienten, die sonst eher in einer passiven Rolle sind, kümmern sich nun aktiv um etwas, übernehmen Verantwortung für die Pflanzen. Der Gepflegte wird zum Pflegenden“, so Kratz.
Zweimal pro Woche können Patienten jäten, säen, pflanzen, schneiden oder - etwa im Winter - kreativ mit Pflanzen und anderem Naturmaterial arbeiten. Die Gartentherapie ist aus Bromms Sicht eine achtsame Naturerfahrung, die weit über das körperliche Arbeiten hinausgeht. „Es geht auch darum, innezuhalten, sich in der Natur zurechtzufinden, Dinge wahrzunehmen und im Hier und Jetzt anzukommen.“
Laut der Amerikanischen Vereinigung für Gartentherapie (AHTA; American Horticultural Therapy Association) wurden therapeutische Aspekte der Gartenarbeit schon im Altertum beschrieben. Im 19. Jahrhundert habe der Arzt Benjamin Rush erstmals positive Effekte auf Menschen mit psychischen Erkrankungen beschrieben. In den 1940er und 1950ern sei die Therapieform auch in der Rehabilitation von Kriegsveteranen eingesetzt worden. Inzwischen werde Gartentherapie für ein breites Spektrum von Erkrankungen genutzt.
„Die Techniken helfen, neue Fähigkeiten zu erlernen oder sich verlorene Fähigkeiten wieder anzueignen“, schreibt die AHTA. Durch Gartentherapie könnten etwa Gedächtnisleistung, kognitive und sprachliche Fähigkeiten verbessert werden. Aber auch Muskelkraft, Gleichgewichtssinn und Ausdauer ließen sich stärken.
Allerdings sei diese Art der Therapie nicht für jeden geeignet, erläutert Kratz: „Das hilft nur bei Leuten, die auch einen angenehmen Bezug zum Garten haben. Deshalb machen wir vorher Biografiearbeit, um zu sehen, was zu den Patienten passt.“ Sein Haus biete auch andere nichtmedikamentöse Methoden an, etwa Qi-Gong.
Die Klinik sei vor etwa 17 Jahren eine der ersten in Deutschland gewesen, die die Gartentherapie in die stationäre Behandlung übernommen habe, so Kratz. Sie sei zwar keine Kassenleistung, „aber wir finden, dass sie wichtig ist“.
Noch immer sind Krankenhäuser mit gartentherapeutischen Angeboten eher selten. „Die Gartentherapie findet sich vor allem in der Altenhilfe und in Rehaeinrichtungen der Psychiatrie und der Sucht und zunehmend auch im pädagogischen Bereich“, sagt Andreas Niepel, Präsident der Internationalen Gesellschaft für Gartentherapie. Das sei auch eine Frage der Finanzierung. Im Rehabereich sei diese durch die deutsche Rentenversicherung abgedeckt.
Niepel schätzt, dass in Deutschland rund 300 bis 400 Gartentherapeuten tätig sind. Eine eigenständige Ausbildung existiere hier nicht, aber Weiterbildungsangebote. Viele Gartentherapeuten seien im Hauptberuf Ergotherapeuten oder Pädagogen.
In anderen Ländern wie etwa in Großbritannien und den USA sei die Therapieform verbreiteter. Dort werde sie auch an verschiedenen Hochschulen gelehrt, so Niepel, der seit 30 Jahren die Abteilung Garten/Gartentherapie an einer Fachklinik für neurologische und neurochirurgische Rehabilitation in Hattingen (Nordrhein-Westfalen) leitet.
Auch in der Neurologie sei die Therapieform anwendbar: „Wenn Menschen zum Beispiel nach einem Schlaganfall wieder lernen müssen, beide Hände koordiniert einzusetzen, ihren Rumpf zu kontrollieren, zu gehen, zu stehen, kann das Gärtnern gut dafür eingesetzt werden.“
„Inzwischen haben viele Studien die positive Wirkung der Gartentherapie auf Gesundheit und Wohlbefinden belegt“, sagt Niepel, der Untersuchungen auf Instagram vorstellt und kommentiert. In seinem Buch „Wohlfühlgärtnern“ wendet er sich auch an junge Gärtner und beschreibt anhand seiner Erfahrungen aus der Gartentherapie, wie Menschen mit unterschiedlichen Ansprüchen an ihr Stück Grün glücklich und zufrieden sein können.
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