Dass dem eigenen Kind etwas zustößt, ist der größte Alptraum vieler Eltern. Wir wollen es schützen und möglichst vor Bösem bewahren. Doch was, wenn das eigene Kind selbst Böses tut?
Laut der Anfang April veröffentlichten Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) hat die Gewaltkriminalität in Deutschland im letzten Jahr besonders bei Kindern und Jugendlichen zugenommen. Tatverdächtig waren in diesem Bereich 13.755 Kinder unter 14 Jahren und 31.383 Jugendliche. Unter Gewaltkriminalität fallen in der PKS unter anderem gefährliche und schwere Körperverletzung, Mord, Totschlag und Vergewaltigung.
Auch die britische Netflix-Serie „Adolescence“ konfrontierte mit dem Thema: Ein dreizehnjähriger Junge aus einer scheinbar intakten Familie ersticht eine Mitschülerin. Seine Eltern quält die Frage, ob sie mitverantwortlich sind, sie etwas falsch gemacht haben. Die Serie gilt nach ein paar Wochen schon als eine der erfolgreichsten des Streamingdienstes überhaupt und war Anlass für Diskussionen, auch unter Eltern.
Dabei geht es nicht nur um den Extremfall. Auch hierzulande fragen Eltern sich womöglich: Wie verbreitet ist Gewalt unter jungen Menschen? Könnte auch mein Kind gewalttätig werden? Und inwieweit habe ich als Elternteil einen Einfluss darauf?
„Passieren kann das jedem“, sagt Prof. Marc Allroggen, der Kinder- und Jugendpsychiater und -psychotherapeut ist und sich schwerpunktmäßig mit aggressivem Verhalten beschäftigt. „Aber es passiert nicht allen - den allermeisten nicht. Eltern brauchen daher zunächst ein bisschen Zuversicht“. Spektakuläre Fälle wie in „Adolescence“ seien nicht die Regel.
„Ein Großteil der Gewalttaten von Kindern entsteht relativ spontan aus einer Streitsituation heraus. Das sind in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle keine geplanten Handlungen“, so Allroggen.
Streit kennt wohl jedes Kind. Wie kommt es, dass einige wenige gewalttätig werden? „Da spielen sehr, sehr viele Faktoren eine Rolle“, sagt Allroggen, der am Universitätsklinikum Ulm leitender Oberarzt ist. Auf individueller Ebene etwa: Zeichnet sich das Kind durch ein besonders impulsives Verhalten aus oder hat es selbst Gewalterfahrungen gemacht?
Weiter spielen soziale Netzwerke und der gesellschaftliche Kontext eine Rolle. Wie wird etwa in der Familie mit Emotionen wie Wut umgegangen, erlebt das Kind hier Gewalt und welche Formen von Gewalt werden in der jeweiligen Kultur in welcher Weise geächtet? „Es geht auch darum, welche Vorbilder das Kind hat. Dazu gehören im weiteren Sinne auch mediale Netzwerke“, so Prof. Allroggen.
Smartphones oder Social Media wegen der Verbreitung problematischer Vorbilder zu verbieten, könne man in seinen Augen zwar diskutieren. Es werde das Problem allein aber nicht lösen - eben weil es so viele Faktoren sind, die bei der Entstehung von Gewalt zusammenspielen.
Genauso wenig ließe sich die Tat eines Kindes ausschließlich auf vermeintliche Fehler in der elterlichen Erziehung zurückführen. „In der Regel gibt es nicht den einen Faktor, etwa: „Hättest du XY gemacht, dann wäre das nicht passiert“. Solche Erklärungsmodelle sind viel zu einfach“, sagt der Kinder- und Jugendpsychiater.
Können Eltern trotzdem etwas tun, um zumindest das Risiko zu minimieren, dass ihr Kind gewalttätig wird? „Der beste Ansatz zur Prävention ist, ein resilienzförderndes und sicheres Umfeld für Kinder zu schaffen“, so Prof. Allroggen, denn resiliente Kinder können ihre Emotionen gut regulieren, sind sozial bindungsfähig und vor negativen Einflüssen aus jedweder Richtung, auch aus den Medien, relativ gut geschützt.
Wie schafft man ein Umfeld, in dem Kinder resilient werden? Allroggen rät, früh damit anzufangen: „Eltern sollten möglichst feinfühlig sein und lernen, die Bedürfnisse ihres Kindes zu erkennen“. Gerade kleine Kinder bräuchten Unterstützung dabei, ihre Emotionen zu regulieren. „Bei alterstypischen Wutanfällen sollte man sein Kind gut begleiten, damit es lernt, sich dann auch wieder zu beruhigen“, so der Psychiater.
Ein weiterer Aspekt ist die Begleitung dabei, autonom zu werden. „Was kann mein Kind schon selbst? Wo kann es Erfahrungen machen, auch mal angemessene Frustrationen erleben?“ - hier gilt es laut Allroggen, eine Balance zu finden. Also das Kind zu unterstützen, aber auch genug loszulassen, damit es eigene Entwicklungsschritte gehen kann.
„Eltern können ihre Kinder nicht rund um die Uhr bewachen. Das sollen sie auch nicht“, sagt Allroggen. „Das Entscheidende ist, dass die Kinder das Gefühl haben, sie können sich, wenn ein Problem auftritt, jederzeit an ihre Eltern wenden“. Sie könnten ihr Kind dann unterstützen und verhindern, dass es in einer medialen Bubble oder einem sonstigen problematischen Netzwerk gefangen ist. „Dazu sollten Eltern auch ein Grundwissen darüber haben: In welchen Kreisen bewegt sich mein Kind?“.
Kommt das Kind nicht von selbst auf einen zu, verhält sich aber ungewöhnlich - zieht sich zurück oder ist plötzlich sehr aggressiv -, sollte man aufmerksam werden. „Das Wichtigste ist dann, zu signalisieren: Wenn du etwas hast, kannst du zu mir kommen. Ich bin da“, sagt Prof. Allroggen. Und zwar ohne Druck auszuüben, indem man nachbohrt.
Wird das eigene Kind gewalttätig, ist das für Eltern sehr schwer auszuhalten. Unterstützung finden Familien in dieser Situation bei Familienberatungsstellen oder der Kinder- und Jugendhilfe. „Bei manchen Kindern spielt auch eine psychische Erkrankung eine Rolle“, sagt Prof. Allroggen. Dann ist es sinnvoll, sich kinder- und jugendpsychiatrisch oder psychotherapeutisch vorzustellen damit das Kind die entsprechende Hilfe bekommen kann.
Für Eltern ist es dem Psychiater zufolge entscheidend, eine gewisse Trennung hinzubekommen: „Ich liebe und akzeptiere mein Kind, aber ich lehne das Verhalten ab, das mein Kind gezeigt hat“. Indem man das vermittelt, biete man dem Kind auch eine Brücke, sein Verhalten wieder zu ändern. Nach eigenen Fehlern zu suchen, sei in der Regel nicht hilfreich. Eltern sollten nach Möglichkeit mit dem Geschehenen abschließen und sich darauf fokussieren, wie sie in Zukunft wieder für ihr Kind da sein können.
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