Die Erfüllung von Chinas Schach-Masterplan stürzte Ding Liren in ein Gefühlschaos. „Ich konnte meine Emotionen nicht kontrollieren. Ich werde weinen, ich fühle mich so erleichtert“, bekannte der 30-Jährige, nachdem er zum ersten chinesischen Champion in der 137-jährigen WM-Geschichte aufgestiegen war. Die Staatsmedien in seiner Heimat bejubelten einen „historischen Sieg“ für Ding, der ein faszinierendes WM-Duell gegen den Russen Jan Nepomnjaschtschi im Tiebreak für sich entschied.
„Dieses Match spiegelt die Tiefe meiner Seele wider“, sagte Ding. Lange hatte er nach der Aufgabe seines Gegners mit der Hand vor den Augen am Brett verharrt, fast ungläubig im Moment des Triumphs. „Es war ein hartes Turnier für mich“, sagte Ding am Ende der drei wechselhaften Wochen des Zweikampfs im kasachischen Astana.
Immer wieder war der Chinese zurückgekommen, hatte Niederlagen verdaut und Rückstände aufgeholt. 7:7 stand es nach den 14 regulären Partien, den Tiebreak zwang Ding mit mutigen Zügen mit 2,5:1,5 auf seine Seite. Als „Stolz Chinas“ wurde er im chinesischen Kurznachrichtendienst Weibo danach gefeiert, Millionen von Chinesen hatten die Kunde von Dings Sieg dort schon in der Nacht zum Montag begeistert kommentiert.
„Ich hoffe, das wird viele Leute beeinflussen“, sagte Ding. Sein Erfolg krönte Chinas Strategie „Großer Drache“, die das Land an die Spitze der Schach-Welt bringen sollte. Noch im kommunistischen China war das Spiel einst als „dekadent“ verpönt und während der „Kulturrevolution“ (1966-76) sogar acht Jahre lang verboten. Dann folgte die Kehrtwende und spätestens mit dem WM-Titel bei den Frauen für Xie Jun 1991 dann der Boom.
Schach wurde staatlich gefördert - überall entstanden Schachclubs. Der aus Wenzhou in der ostchinesischen Provinz Zejiang stammende Ding Liren begann selbst schon im Alter von vier Jahren mit dem Spiel, gefördert von seinem Vater, einem leidenschaftlichen Schachspieler. Mit fünf Jahren gewann Ding Liren erstmals ein landesweites Turnier - mit 16 Jahren seinen ersten Titel als chinesischer Schachmeister.
„Manchmal habe ich geglaubt, ich sei süchtig nach Schach. Ohne Turniere war ich nicht glücklich“, sagte Ding, der sich als Fußballfan beschreibt und gern Zeit in Museen verbringt. Ein Jurastudium hat er abgebrochen, alles auf Schach gesetzt. Nun ist er der 17. WM-Champion der Schach-Historie.
Dabei schaffte er es nur über Umwege überhaupt ins mit zwei Millionen Euro dotierte Duell um den WM-Titel. Für das WM-Kandidatenturnier war er nicht qualifiziert und rückte nur nach, als der Russe Sergej Karjakin wegen seiner Unterstützung für Russlands Krieg in der Ukraine vom Weltverband ausgeschlossen wurde. Weil er zuvor in der Corona-Zeit aber nicht genug Turniere gespielt hatte, organisierte China kurzerhand welche für ihn.
Bei der WM-Ausscheidung wurde Ding dann Zweiter hinter Nepomnjaschtschi. Doch weil Dauer-Weltmeister Magnus Carlsen keine Lust auf ein weiteres Duell gegen den Russen hatte und seine Krone abtrat, spielten die beiden Herausforderer um den Titel.
Nach Dings Sieg gratulierte Carlsen seinem Nachfolger via Twitter für den entscheidenden Zug „zur Unsterblichkeit“. Zuvor hatte er allerdings auch gesagt: „Der Weltmeister wird nicht als Weltmeister gesehen werden. Das ist die einfache Realität.“
Mit dem Makel, ein Titelträger von Carlsens Gnaden zu sein, wird Ding angesichts des historischen Ausmaßes seines Erfolgs wohl leben können. Dem 32 Jahre alten Norweger fehlte nach zehn Jahren der Dominanz die Motivation, sich ein weiteres Mal dem kraftraubenden WM-Kampf zu verschreiben. Die Weltrangliste führt Carlsen aber weiter an, er bleibt wohl der Fixpunkt der Schachwelt.
Ding ist anders als sein Vorgänger ein eher schüchterner Zeitgenosse. „Nicht mal als Kind habe ich davon geträumt. Meine Ambition ist nicht so groß, ich habe mir nie so hohe Ziele gesteckt. Die WM kam als angenehme Überraschung“, sagte der Chinese schon vor den Partien gegen Nepomnjaschtschi der „Zeit“. Berühmt zu sein, das möge er gar nicht, beteuerte Ding. Spätestens nach dem Triumph von Astana wird er in China jedoch mit dem Status des Volkshelden leben müssen.
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