Vor 50 Jahren wurde der erste Nationalpark Deutschlands gegründet – im Bayerischen Wald. Der heute 87-jährige Hans Bibelriether aus Ezelheim (Landkreis Neustadt/Aisch-Bad Windsheim) war von Anfang an in leitender Position dabei. Für die Forstverwaltung war zu Beginn anscheinend noch ausgemacht, dass dieses Projekt scheitern sollte. Dass es anders kam, ist der Beharrlichkeit des Mittelfranken zu verdanken. Nicht zur Freude aller.
FLZ: „Herr Dr. Bibelriether, da tun wir jetzt mal drei Jahre lang so als ob, dann erledigt sich das von selber“, erinnern Sie sich in Ihrem Buch „Natur Natur sein lassen“ an die Aussage eines Regierungsrates vor Ihrem Amtsantritt als Leiter des Nationalparkamtes 1969. Wäre die Bevölkerung im Bayerischen Wald heute noch froh, wenn Sie sich an diese Vorgabe gehalten hätten?
Dr. Hans Bibelriether: Nein. Inzwischen ist die Mehrheit der Bewohner in der Region für den Nationalpark und dort für den konsequenten Schutz der Natur. Durch den Nationalpark hat sich der Tourismus sehr positiv entwickelt. Er war so auch wirtschaftlich für den Bayerischen Wald ein großer Erfolg.
Sie sind in Ezelheim geboren. Wie hat Sie der Ort geprägt?
Sehr. Ein Glücksfall für mich war, dass unsere Familie in einem Einzelhaus außerhalb des Ortes gewohnt hat, umgeben von Äckern und Obstgärten. Als ich zwölf Jahre alt war, musste ich am Kriegsende 1945 ein Jahr lang nicht in die Schule. Stattdessen bin ich auf die Felder, Wiesen, an die Bäche und in die Wälder gegangen. Das hat mich mehr geprägt als zehn Jahre Unterricht.
Wie eng sind heute Ihre Beziehungen nach Ezelheim?
Heuer bin ich – auch wegen Corona – nur einmal dort gewesen. Leider kann ich nicht mehr selbst fahren. Das Miteinander in unserer Familie war sehr intensiv. Mit meinen Geschwistern hatte ich das beste Verhältnis. Mein Patenkind lebt dort.
Ihr Bruder Martin war bis zu seinem Tod Bürgermeister in Sugenheim. Ihr Vater war Landwirt. Wie selbstverständlich war es da, dass Sie studieren konnten?
Mein Vater hatte vom Elternbauernhof im Dorf nur zehn Hektar Land bekommen. Das bot für uns keine Möglichkeit für ein Auskommen. Deshalb durften wir an die Oberschule und dann studieren. Mein älterer Bruder wurde Pfarrer. Meine Abinote war nicht so gut, dass ich gleich Forstwissenschaften studieren konnte. Deshalb begann ich in Würzburg mit Geografie und Biologie, zwei Jahre später konnte ich dann nach München an die Forstfakultät wechseln.
Nach Ihrer ersten Stelle am Forstamt München-Nord bewarben Sie sich dann mit Ihrem Neustädter Schul- und späteren Studienfreund Georg Sperber gemeinsam für die Stelle im Nationalparkamt in Spiegelau. Wer wollte damals einen Nationalpark in Deutschland – und wer nicht?
Der bekannte Tierforscher und
-filmer Bernhard Grzimek und Hubert Weinzierl vom Bund Naturschutz in Bayern trieben die Initiative für die Einrichtung eines Nationalparks wesentlich voran. Große Widerstände gab es vonseiten der
Jäger und Förster. Letztere hatten ein Problem damit, dass der Wald auch ohne ihr Zutun wachsen sollte. Zum Glück hatte ich aber immer wichtige Mitstreiter an meiner Seite: Vom damaligen bayerischen Forstminister Hans Eisenmann wurde der Nationalpark konsequent unterstützt, auch gegen Widerstände im eigenen Ministerium. Wichtig für uns war aber auch die Hilfe von Politikern vor Ort wie dem damaligen Grafenauer Landrat Karl Bayer, dem Sohn eines Waldarbeiters aus dem Steigerwald.
Was waren denn anfangs Ihre Ziele für den Nationalpark?
Wir wussten erst selbst noch nicht, was ein Nationalpark genau ist. Durch Besuche in anderen Parks in Jugoslawien, an der russisch-polnischen Grenze, in der Schweiz und auch in Amerika entwickelten wir ein erstes Konzept. Wir reduzierten den Rot- und Rehwildbestand, der damals große Schäden im Wald anrichtete. Heute ist die Bejagung im Park nicht mehr nötig. Durch umgefallene Stämme und die liegengelassenen Fichten werden große Flächen von Hirschen und Rehen frei gehalten.
Was waren aus Ihrer Sicht weitere Meilensteine für die Entwicklung des Nationalparks?
In einem langen Prozess schafften wir es, dass in Teilen des Parks kein Holz mehr genutzt wurde. Das ist auch meinem langjährigen Freund Alois Glück, dem ehemaligen bayerischen Landtagspräsidenten, zu verdanken. Als Vorsitzender des Umweltausschusses formulierte er 1973 ein Naturschutzgesetz, in dem erstmals Nationalparke vorkamen und festgelegt wurde, dass diese „keiner wirtschaftsbestimmten Nutzung“ dienen.
Dann kam es 1983 zu einem großen Sturm, der viele Bäume entwurzelte. Wie wirkte sich dieses Ereignis auf die weiteren Entwicklungen aus?
Es kam zur wichtigsten Entscheidung: Dank Minister Eisenmann durfte der Windwurf in der Kernzone des Parks liegenbleiben. Wir hatten ihm eine kleine Fläche gezeigt, auf der bereits nach einem Sturm 1972 wenige Bäume liegengeblieben waren und auf der sich inzwischen ein junger Wald hervorragend entwickelt hatte. Doch herrschte noch immer unter den Förstern die Vorstellung, die wir anfangs auch hatten: Man müsse den Wald aktiv in einen naturnahen Zustand umgestalten. Inzwischen waren wir aber überzeugt, dass es das Beste sei, Natur einfach Natur sein zu lassen, wie ich es dann formuliert habe.
Ende der 80er Jahre breitete sich dann auf diesen Flächen der Borkenkäfer massiv aus. Ein Sturm der Entrüstung brach los.
Es herrschte in unserem Land ein romantisches Bild vom Wald. Dürre Bäume sollten dort nicht vorkommen. Ich habe aber damals schon die Überzeugung vertreten, dass Windwurf, Schneebruch und Borkenkäfer Methoden der Natur sind, aus einem instabilen Wirtschaftswald einen stabilen Naturwald zu machen. Wir haben den Borkenkäfer nur in einem Streifen am angrenzenden Privat- und Gemeindewald bekämpft. Nach drei Jahren ist die Population dann – wie von Forschern prognostiziert – von selbst zusammengebrochen.
Bei den Diskussionen um die Erweiterung des Nationalparkgebiets Mitte der 90er Jahre wurde es richtig heftig. Sie erhielten Morddrohungen. Bei einem Faschingsumzug 1996 in Neuschönau zeigte ein Wagen eine Puppe mit Ihrem Namen, die vom „letzten, dürren Baum“ des Bayerischen Waldes baumelte. Hatten Sie nie Zweifel an Ihren Entscheidungen?
Ich bin von meinen Eltern stark religiös geprägt. Für mich sind Bäume und Wälder Bestandteil von Gottes großartiger Schöpfung – und wir sollen sie uns nicht untertan machen. Unsere Aufgabe ist es, sie zu bewahren. Ich bin dankbar dafür, dass mir die Aufgabe anvertraut, die Kraft und die nötigen Kontakte dafür geschenkt wurden, im Bayerischen Wald ein kleines Stück dieser Schöpfung für unsere Kinder und Kindeskinder zu erhalten.
Wie hat dieser erste deutsche Nationalpark auf weitere Parke in Deutschland gewirkt?
Nach der Wiedervereinigung war es möglich, in den neuen Bundesländern Nationalparke zu schaffen. Das ging auch deshalb, weil es als Beispiel den Bayerischen Wald gab.
Wie verfolgen Sie die Diskussion um einen Nationalpark im Steigerwald?
Ich würde ihn sehr begrüßen. Wenn wir heute noch einen Minister Eisenmann hätten, dann gäbe es ihn schon. Heute müsste der Ministerpräsident darüber entscheiden. Im internationalen Vergleich gibt es in Deutschland wenig unberührte Natur. Es gibt eine Grundsatzentscheidung, die verlangt, dass zehn Prozent der Landesfläche unberührt bleiben sollen. Das wäre allein mit Flächen im Staatsbesitz problemlos umzusetzen.
Im Wald vollzieht sich ja gerade ein dramatischer Wandel. Wird es in 50 Jahren überhaupt noch Wald im heutigen Sinne geben?
Ich hoffe, dass Deutschland auch in 50 Jahren noch ein lebens- und liebenswertes Land ist. Dafür muss aber ein grundlegender Wandel stattfinden, wie ihn zum Beispiel junge Leute in der „Fridays for Future“-Bewegung fordern. Ich hatte auch schon Kontakt mit Verantwortlichen in Deutschland wie Luisa Neubauer. Ich hoffe, dass die jungen Leute und eventuell auch die Folgen von Corona die Einsicht bewirken, dass wir mit dem Raubtierkapitalismus nicht weiterkommen. Wir dürfen nicht länger gegen die Natur wirtschaften!
Dr. Hans Bibelriether lebt heute in Thyrnau (Landkreis Passau). Das Interview führte Ulli Ganter telefonisch. Es erschien am 2. Januar 2021 in der FLZ.