Die Finanzierungskrise bei deutschen Start-ups hat sich deutlich verschärft. Jungunternehmen sammelten 2023 sechs Milliarden Euro Wagniskapital ein und damit 39 Prozent weniger als im Vorjahr (9,9 Mrd Euro), zeigt eine am Dienstag veröffentlichte Studie der Prüfungs- und Beratungsgesellschaft EY. Es war schon das zweite Jahr mit einem kräftigen Rückgang in Folge. Gemessen am Rekordjahr 2021 schrumpften die Investments fast um zwei Drittel (65 Prozent) - damals hatten Geldgeber 17,4 Milliarden Euro in Start-ups gesteckt.
EY-Partner Thomas Prüver verwies auf die hohe Inflation, gestiegene Zinsen, die schwache Konjunktur und Unsicherheit wegen Kriegen. „Um auch in diesen schwierigen Zeiten an frisches Kapital zu kommen, reichen für Start-ups gute Ideen allein nicht mehr aus.“ Nötig seien solide Geschäftsmodelle und die Aussicht auf Profitabilität.
2023 erhielten EY zufolge erneut Berliner Start-ups das meiste Wagniskapital, mit fast 2,4 Milliarden Euro allerdings weniger als die Hälfte als im Vorjahr. Es folgten bayerische Start-ups mit rund 1,7 Milliarden Euro, gut 600 Millionen Euro weniger als 2022, und Jungunternehmen aus Baden-Württemberg, das als einziges Bundesland mit 736 Millionen Euro bei den Investments zulegte. Dort wurde auch die größte Geldspritze (463 Mio Euro) verzeichnet - für die auf Künstliche Intelligenz spezialisierte Heidelberger Firma Aleph Alpha.
Die rauen Zeiten für Start-ups zeigen sich zudem bei den Finanzierungsrunden. Ihre Zahl sank laut EY 2023 um 15 Prozent zum Vorjahr auf 861 Deals. Zudem gab es nur acht große Deals mit mehr als 100 Millionen Euro - 2022 waren es 19. Insgesamt fielen die Investments ungefähr auf das Vor-Corona-Niveau von 2019 zurück. Der Startup-Verband sprach von einem „Alarmsignal, vor allem bei den ausbleibenden Mega-Deals.“
Start-ups sind auf Investoren angewiesen, da sie erst auf Wachstum setzen, bevor sie Gewinne schreiben. Große Fonds und Konzerne beteiligen sich mit Wagniskapital an jungen Firmen in der Hoffnung, dass sich deren Ideen durchsetzen. Noch in der Corona-Pandemie hatten Start-ups einen Boom erlebt. Sie profitierten davon, dass die Zinsen niedrig waren und die Digitalisierung einen Schub bekam - etwa bei Finanzgeschäften, Online-Shopping oder Essenslieferungen.
Doch mit dem Zinsanstieg folgte die Krise: Viele Start-ups strichen Jobs, andere wie der Lieferdienst Gorillas wurden übernommen. Auch bei den Gründungen ging es bergab: 2023 entstanden laut Startup-Verband knapp 2500 Firmen, fünf Prozent weniger als im Vorjahr. EY-Partner Prüver rechnet damit, dass der Jobabbau in der Branche weiter geht. Auch 2024 müssten Start-ups signifikant sparen. „Das betrifft auch und insbesondere die Personalkosten.“
Immerhin: Ungeachtet der Corona-Sonderkonjunktur hat der Start-up-Standort Deutschland große Fortschritte gemacht und viel Geld sowie Talente aus dem Ausland angezogen. Neben Berlin gewinnen auch andere Städte wie München an Bedeutung. Die Zahl der Start-ups mit Milliarden-Bewertung hat sich seit 2018 auf 33 fast verfünffacht, so der Startup-Verband. Darunter sind die Online-Bank N26, der Übersetzungsdienst DeepL und der Fernbus- und Zugbetreiber Flix.
Die Branche beschäftige rund 400.000 Menschen und stehe mit einer Firmenbewertung von 172 Milliarden Euro für rund fünf Prozent der Wirtschaftsleistung, sagte die neue Vorsitzende des Startup-Verbands, Verena Pausder, im Dezember der dpa. „2018 waren es weniger als ein Prozent.“ Die Gründerbranche habe volkswirtschaftliches Gewicht.
Doch nach wie vor hinkt Deutschland beim Wagniskapital anderen Ländern hinterher. Hierzulande werde 85 Euro pro Kopf in Wagniskapital investiert, in Großbritannien seien es 171 Euro, sagte Pausder. Zur Tech-Nation USA ist der Abstand noch weit höher. Bei großen Finanzierungsrunden sind hiesige Start-ups meist auf angelsächsische Investoren angewiesen. Und gerade US-Geldgeber hielten sich zuletzt mit Engagements in Europa zurück, berichtete im der Risikokapitalgeber Atomico - was Start-ups in Deutschland trifft.
Auch im zweiten Halbjahr zeichnete sich EY zufolge noch kein Aufwärtstrend bei der Start-up-Finanzierung ab, allenfalls eine Stabilisierung auf gedämpftem Niveau. Mit knapp 3 Milliarden Euro floss etwas weniger Geld an Jungfirmen als im ersten Halbjahr.
EY-Experte Prüver ist trotzdem optimistisch. „Übertreibungen aus den Boom-Jahren liegen jetzt hinter uns, Investoren sowie Gründerinnen und Gründer sind vorsichtiger und realistischer geworden.“ Einiges spreche dafür, dass die Talsohle bei der Finanzierung erreicht sei. „Die Start-ups, die heute entstehen, wachsen und frisches Geld erhalten, haben die erste Bewährungsprobe schon bestanden und sich als widerstandsfähig erwiesen.“
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