„Selbst das Wetter ist britisch“, sagt der spanische Kunde in dem Buchladen an der Main Street. Karen, die freundliche Verkäuferin, muss schmunzeln.
Zwar ist der Himmel über Gibraltar an diesem Tag ziemlich grau, doch auf der schmalen Landzunge an der Nahtstelle von Europa und Afrika ist das Wetter eigentlich so wenig „very british“ wie der Lebensstil der gut 30.000 Einwohner in der knapp sieben Quadratkilometer kleinen Kronkolonie.
An der Südspitze der Iberischen Halbinsel trifft mediterrane Lebensart auf britisches Understatement. Die spanische Stadt La Linea de la Concepcion liegt nur einen Steinwurf entfernt vom britischen Überseegebiet; ein schmales Stück Niemandsland trennt die beiden Nachbarn - und das graue Asphaltband der Landebahn.
Der örtliche Flughafen ist das erste Kuriosum der langgezogenen Halbinsel, denn landet tatsächlich mal eine Maschine - vorwiegend aus Großbritannien - signalisiert eine Ampel dem Autoverkehr auf der vierspurigen Straße anzuhalten.
Ist Gibraltar, dieser markante Felsklotz an der Bucht von Algeciras, nun britisch, oder sind seine Bewohner doch eher verkappte Spanier mit britischem Pass? Buchverkäuferin Karen zögert keine Sekunde mit der Antwort: „Natürlich sind wir Briten“, sagt die junge Frau mit dem roten Haar und dem Heer von Sommersprossen.
Ihre Antwort hätte wohl kaum anders ausfallen können, schließlich wurde sie in England geboren, siedelte vor zwei Jahrzehnten aber nach Gibraltar über - „wegen des besseren Wetters“.
Die Eindrücke beim Spaziergang durch das Städtchen, dem ewigen Zankapfel zwischen Briten und Spaniern, fallen weniger eindeutig aus. Die roten Doppeldeckerbusse mit offenem Verdeck kennt man aus London, die roten Telefonhäuschen von malerischen Ortschaften auf der Insel und die Schüler, die Punkt 13 Uhr aus der Schule strömen, tragen natürlich dunkelblaue Schuluniformen mit Emblem.
Doch die Häuschen, die sich an die verwinkelten Gassen zu Füßen des „Rocks“ - des allgegenwärtigen riesigen Kalksteinfelsens - schmiegen, könnten auch irgendwo im spanischen Hinterland stehen.
Auf den Straßen herrscht Rechtsverkehr und in der Main Street, der Einkaufs- und Flaniermeile für Touristen und Einheimische, dominieren klar spanische Sprachfetzen. Neben dem Dialekt Llanito, einem Mischmasch aus spanischen und englischen Worten.
Es gibt Läden der britischen Einzelhandelskette Marks & Spencer und Geschäfte mit schier endloser Gin-Auswahl, die wohl selbst Queen Mum zu Lebzeiten entzückt hätten. In den Tavernen werden indes knusprige Bocadillo-Brötchen mit Serrano-Schinken und Tapas serviert. Der Mix verleiht Gibraltar einen ganz eigenen multikulturellen Anstrich.
1704 hatten die Briten den Spaniern den Flecken zwischen den Kontinenten abgeluchst: Die englisch-holländische Flotte unter Führung von Prinz Georg von Hessen-Darmstadt nutzte die Siesta der spanischen Soldaten und annektierte den strategisch wichtigen Felsen im Handstreich. Seitdem weht der Union Jack über dem Rathaus, allen spanischen Rückgabegesuchen und unverhohlenen Drohungen zum Trotz.
Und obwohl nur ein Viertel der Bewohnerinnen und Bewohner heute britischer Herkunft ist, ist die Zugehörigkeit zu Großbritannien unumstritten. Bei einem Volksentscheid 2002 etwa sprachen sich fast 99 Prozent für die Beibehaltung des Status als Kronkolonie aus.
Für die Briten ist der dicht besiedelte Flecken am Übergang von Mittelmeer und Atlantik nicht nur ein Kuriosum fernab der Heimat, sondern es ist ein wirtschaftlich wichtiger Außenposten.
Das Territorium ist eine Einkaufs- und Niedrigsteueroase, die Touristen und Firmen anlockt. Der Hafen ist ein beliebter Stopp für Frachter und Kreuzfahrtschiffe, die sich hier mit preiswertem Schiffsdiesel eindecken.
Immobilien- und Investmentfirmen haben auf Gibraltar ihren Sitz, Online-Wettbüros erzielen riesige Umsätze. Die 10.000 Pendlerinnen und Pendler, die dank eines freizügigen Grenzverkehrs mit Spanien problemlos zum Arbeiten nach Gibraltar kommen können, halten die lokale Wirtschaft in Schwung.
Das alles ist mit ein Grund, warum den Menschen in Gibraltar - trotz ihrer Sympathien für Großbritannien - an guten Beziehungen zur EU gelegen ist. Nirgendwo sonst war die Ablehnung des Brexit so groß wie hier, wo 96 Prozent der Bewohner gegen den Austritt stimmten.
Oben auf dem Kalksteinfelsen rüsten sich die Affen auf den Ansturm der Touristen, die entweder bequem, wenn auch nicht ganz billig, mit der Seilbahn zur Bergstation schweben, oder sich auf dem ziemlich steinigen Devil's Gap Footpath 400 Meter nach oben quälen.
Rund 300 Exemplare dieser ebenso neugierigen wie diebischen Berberaffen sollen auf der Landmarke leben. Riesige Schilder künden von drastischen Strafen, falls Touristen auf die Idee kommen sollten, die tierischen Bandenmitglieder zu füttern. Was auch nicht nötig ist, schließlich kümmert sich ein eigens abgestellter Corporal der britischen Armee um Wohl und Wehe der verlausten Lümmel.
Dass die kleine Affenkolonie so aufopferungsvoll gehegt und gepflegt wird, liegt an einer alten Legende: Ihr zufolge weht der Union Jack so lange über Gibraltar, wie Affen über den Felsen turnen.
Churchill höchstpersönlich soll den Auftrag erteilt haben, Berberaffen aus Marokko zu importieren, um für Blutauffrischung in Europas einziger freilebender Affenkolonie zu sorgen.
Vom Wasser aus betrachtet, erinnert der Felsen von Gibraltar an den aufsteigenden Rumpf eines Ozeanliners. Auf seiner Spitze schweift der Blick über das wachsende Meer aus Hochhäusern. Bebaubares Land ist hier Mangelware: Gibraltar hat schon jetzt eine höhere Bevölkerungsdichte als Los Angeles oder Chicago.
Am Horizont zeichnet sich die Küste Afrikas ab; am Ende der Landzunge, am Europa Point, strecken sich der rot-weiße Leuchtturm und die 1997 eingeweihte Ibrahim-al-Ibrahim-Moschee in den Himmel.
Die neueste Attraktion auf dem Felsen ist der Skywalk. In schwindelerregender Höhe schiebt sich die Stahlkonstruktion mit ihrem gläsernen Boden über die Abbruchkante, wo Schwindelfreie einen Blick auf die Sandstrände ein paar hundert Meter tiefer werfen können.
So unverwüstlich der Felsklotz auch wirkt, im Innern ist er löchrig wie Schweizer Käse. Mehr als 100 Höhlen hat die Erosion ausgewaschen, hinzu kommen 50 Kilometer Tunnel, die während des Zweiten Weltkrieges als unterirdische Festung für 10.000 Soldaten dienten.
Die wohl berühmteste Höhle ist der Gorham-Komplex, der 2016 zum Unesco-Welterbe erklärt wurde. 40.000 Jahre alte Kratzspuren deuten darauf hin, dass hier womöglich schon die letzten Neandertaler Zuflucht fanden.
Noch spektakulärer ist die St. Michael's Cave mit ihrem Wald aus gigantischen Tropfsteinen. Um die Höhle rankte sich lange die Sage, dass Gibraltar unterirdisch mit Afrika verbunden sei: Durch den Gang sollen auch die frechen Affen auf den Felsen gelangt sein.
Doch das ist nur eine hübsche Legende über dieses Wunderwerk der Natur, das heute für Konzerte und Theater genutzt wird und das dank ausgeklügelter Licht-Show in den kitschigsten Farben erstrahlt.
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