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Veröffentlicht am 08.04.2025 13:32, aktualisiert am 08.04.2025 14:27

Gutachten in Würzburg: Übergriffe im Kommunionsunterricht

Sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen gab es auch im Bistum Würzburg. (Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa)
Sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen gab es auch im Bistum Würzburg. (Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa)
Sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen gab es auch im Bistum Würzburg. (Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa)

51 Beschuldigte, 226 Betroffene, 449 mutmaßliche Taten: Das ist das Ergebnis eines Gutachtens über sexuellen Missbrauch an Kindern und Jugendlichen im Bistum Würzburg zwischen 1945 und 2019. Von den mutmaßlichen Tätern, gegen die es einen plausiblen Verdacht gebe, seien 50 Männer, sagte ein Sachverständiger, der im Auftrag der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs (Ukam) in der Diözese ein Gutachten erstellte. 

Die meisten Opfer seien Mädchen gewesen, unter anderem missbraucht im Kommunionsunterricht, sagte Gutachter Hendrik Schneider, ein Rechtsanwalt aus Wiesbaden, der eine strafrechtliche und kriminologische Auswertung der Bistumsakten durchführte. 

43 der mutmaßlichen Täter seien Kleriker gewesen, also religiöse Amtsträger in der katholischen Kirche wie Pfarrer, die unter Verantwortung der Diözese Missbrauchstaten begangen hätten. Laut Gutachten gab es damals teils Verschleierungsversuche, auch von Bistumsangehörigen.

Kultur des Hinschauens

„Bis Anfang der 2000er Jahre gab es systematischen Schutz einzelner Kleriker, denen Missbrauch vorgeworfen wurde, und Fälle, in denen die Aufklärung nach heutigen Maßstäben unzureichend erfolgte“, sagte Schneider. 

Die Strategie des Schutzes der Institution Kirche wandele sich nun langsam zu einer Kultur des Hinschauens. „Mittlerweile hat das Bistum Strukturen geschaffen, um Gefährdungslagen zu vermeiden und auf Missbrauchsverdachtsfälle adäquat zu reagieren.“

Sexueller Missbrauch sei eine Wunde, die nicht heile, sagte der Würzburger Bischof Franz Jung. „Ohne die Betroffenen und ihre Berichte wären wir nicht in der Lage gewesen, die Aufarbeitung der Missbrauchsverbrechen anzustoßen.“ Er bitte um Entschuldigung für die Jahre der Untätigkeit der Kirche. 

Hunderte Akten gesichtet

Für das Gutachten hatte der externe Sachverständige 240 Akten des Bistums geprüft, die im Zusammenhang mit Missbrauchsverdacht vorlagen. Vereinzelt seien Strafakten von Staatsanwaltschaften ausgewertet worden und für einzelne Fragen auch Akten des Diözesanarchivs. 

Ferner seien 30 Menschen befragt worden, darunter aktuelle oder ehemalige Funktionsträger des Bistums, anderer kirchlicher Institutionen, der Strafverfolgungsbehörden, Experten sowie Betroffene. Durch ein Hinweisgebersystem im Internet konnten bisher nicht bekannte mutmaßliche Missbrauchshandlungen anonymisiert mitgeteilt werden.

„Es waren schwierige Zeiten, es war viel Arbeit, aber es hat sich gelohnt für alle Betroffenen“, sagte ein Betroffenenvertreter, der Mitglied der Ukam ist.

Viele Opfer sechs bis elf Jahre alt 

Aufgrund ungenauer Angaben in Akten wurden für das Gutachten auch Schätzwerte herangezogen: Danach ergäben sich sogar 3.053 Taten für denselben Personenkreis. 

Bei der ersten Tat seien die Verdächtigen im Schnitt 40,5 Jahre alt gewesen. Mit 62 Prozent sei die Mehrheit der mutmaßlich Geschädigten damals zwischen 6 und 11 Jahre alt gewesen. Dem Bistum wurden die mutmaßlichen Übergriffe durchschnittlich 25,7 Jahre nach Tat bekannt. 

Mehr als ein Vierteil der Taten (28,7 Prozent) betrifft den sexuellen Missbrauch von Kindern, unter anderem gewaltsam. Gegen 34 Beschuldigte (67 Prozent) sei Strafanzeige gestellt worden - in 15 Fällen vom Bistum selbst. 

Bei 18 Verdächtigen habe es Hinweise gegeben, dass Beschuldigte oder Bistumsangehörige auf Betroffene einwirkten, um Taten zu verschleiern. In 6 Fällen hätten Gemeinde- oder Familienmitglieder des Opfers derart gehandelt. 

Hinweise, dass die jeweilige Bistumsleitung damals systematisch Täter schützte, gebe es nicht. In einigen Fällen sei mit Versetzung von Klerikern auf mutmaßliche Übergriffe reagiert worden.

Empfehlung an Bischof Jung

Nach Ansicht der achtköpfigen Kommission verdient das vom Bischof und seinem Präventions- und Interventionsteam bislang Erreichte Anerkennung. Jung ist seit 2018 im Amt. Dennoch gebe es weiter Handlungsbedarf. So sollten etwa Konzepte zur Verhinderung von Missbrauch weiterentwickelt werden, dafür brauche es auch mehr Personal. Ehrenamtliche sollten eingebunden werden.

„Es existiert keine systematische Erfassung, wie viele und welche Personen im Bistum ehrenamtlich tätig sind“, kritisierte Marcel Romanos, Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Uniklinikums Würzburg. „Entsprechend liegen von diesen auch keine Führungszeugnisse vor, wie es für die hauptamtlichen Mitarbeiterinnen zur Pflicht gemacht wurde.“

Kein Zugriff auf Akten unter Papstaufsicht

Da nicht alle der im Gutachten beschriebenen mutmaßlichen Missbrauchsfälle in Verantwortung des Bistums lagen, sondern etwa in der von Orden, forderte die Ukam diese auf, ebenfalls die Vergangenheit aufzuarbeiten. Außerdem habe die Kommission keinen Zugriff auf Akten aus Einrichtungen gehabt, die unter der Aufsicht des Papstes stehen.

Würzburg ist eines von sieben Bistümern in Bayern. Es gehört zur Kirchenprovinz der Erzdiözese Bamberg. Etwa 630.000 der rund 1,3 Millionen Einwohner, die auf dem Gebiet des Bistums leben, sind Katholiken.

Betroffene fordern bayernweite Aufarbeitungskommission

Inzwischen haben zahlreiche Bistümer in Deutschland Gutachten zu Missbrauchsfällen in Auftrag gegeben, Betroffenenbeiräte und Kommissionen eingesetzt. Dass die Aufarbeitung vielfach den Organisationen überlassen werden, in denen der Missbrauch geschehen ist, kritisieren Betroffene aber seit Jahren. Für diesen Mittwoch ist die Übergabe einer Petition an den bayerischen Landtag geplant, in der die Initiatoren einen unabhängigen Landesbeauftragten für Bayern fordern - ähnlich dem Amt der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) auf Bundesebene. 

Außerdem sprechen sie sich in der Petition für eine bayernweite Aufarbeitungskommission aus und einen entsprechenden Betroffenenbeirat. Das Ziel ist die „Bekämpfung sexualisierter, körperlicher, psychischer, spiritueller und behördlicher Gewalt, in allen Institutionen, nicht nur in den Kirchen, in denen sich die Verbrechen ereignet haben“.

© dpa-infocom, dpa:250408-930-427085/2


Von dpa
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