Die Goldmedaille von Malaika Mihambo am Ende der WM in Eugene sorgte für den erhofften Glanz - übertünchen konnte sie das Fiasko für die deutsche Leichtathletik drei Wochen vor der Heim-EM nicht.
„Das hübscht die Bilanz etwas auf, löst aber das grundsätzliche Problem nicht“, bekannte Verbandspräsident Jürgen Kessing nach dem historischen Tief bei den 18. Weltmeisterschaften seit 1983. Neben dem Sieg des Weitsprung-Superstars gab es nur noch überraschend Bronze für das Sprint-Quartett der Frauen. Weniger Medaillen waren es noch nie, beim bisherigen Tiefpunkt 2003 in Paris standen vier in der deutschen Bilanz.
Ein Ausrutscher ins Negative ist die Pleite in den USA nicht, sondern eine sich seit Jahren abzeichnende Krise, die spätestens bei den Tokio-Spielen 2021 mit nur drei Olympia-Medaillen sichtbar wurde. „Ein „Tatort“-Fall ist in 90 Minuten gelöst. Das schaffen wir nicht“, meinte Kessing. Denn nicht nur die Mini-Medaillenzahl bereitet Sorgen. „40 bis 45 Prozent der deutschen Athleten konnten ihr Leistungsvermögen nicht abrufen“, sagte Cheftrainerin Annett Stein.
Außerdem konnten die 80 WM-Starter nur siebenmal einen der ersten acht Plätze erreichen, die Fördergeld vom Bund bringen. Dass dies vor dem finalen WM-Wochenende nur Diskuswerferin Claudine Vita geschafft hatte, machte die Mission zu einem Debakel und jegliche Werbung für die EM vom 15. bis 21. August in München zunichte. „Wir haben uns bei der WM einen Kick für die Europameisterschaft gewünscht“, sagte Kessing. „Nur wenn man gute Leistungen zeigt, macht man Appetit auf mehr.“
Ob die Auftritte in Amerika Ansporn für die Athleten sind, sich an der Isar zu rehabilitieren, oder ein Aufbäumen ausbleibt, ist die große Frage. „Ich würde mir wünschen, wenn wir ein zweistelliges Medaillenergebnis erreichen“, sagte Kessing. Bei der EM 2018 in Berlin gab es 19 Medaillen für den Deutschen Leichtathletik-Verband.
„Wir werden da glänzen“, prognostizierte die jeweils zweimalige Weitsprung-Olympiasiegerin und -Weltmeisterin Heike Drechsler. Die 57-Jährige mahnte im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur am Montag jedoch, die WM müsse immer das Maß der Dinge sein. „Das als Start für die EM zu nehmen, geht einfach nicht“, betonte Drechsler. Deutsche Athletinnen und Athleten hätten bei der WM ihr Bestes gegeben. Doch insgesamt fehle es an der Breite.
Viel hängt davon ab, ob sich nach den WM-Absagen Medaillenkandidaten bei der EM zurückmelden. Dazu zählen die Speerwurf-Asse Johannes Vetter und Christin Hussong, Siebenkämpferin Carolin Schäfer und der Olympia-Zweite im Gehen, Jonathan Hilbert. Außerdem ist abzuwarten, ob sich Langstrecklerin Konstanze Klosterhalfen nach der Tortur über 5000 Meter und die zweimalige WM-Dritte Gesa Krause nach einem quälenden Hindernislauf schnell genug erholen werden. „Genießen ist schwer, wenn es so scheiße war“, bekannte die Europameisterin, die als Letzte im Finale verzweifelt ins Ziel gejoggt war.
Ein Martyrium waren auch die 35 Kilometer für den Geher Carl Dohmann am WM-Schlusstag. Nach einer Corona-Erkrankung vor der WM kam er als 40. und Letzter ins Ziel - mehr als 22 Minuten nach dem Sieger. „Das waren Leidensläufe“, befand Kessing.
Ins Straucheln waren auch ein paar andere deutschen Asse geraten, wie die Olympia-Zweite Kristin Pudenz, der die Nerven im Diskus-Finale versagten. Oder der Speerwerfer Julian Weber: Er wollte Edelmetall und wurde wie bei den Tokio-Spielen nur Vierter. „Ich hätte lieber den fünften Platz gehabt“, meinte er sarkastisch.
Was man aus Heimspielen machen kann, zeigte das US-Team furios. Es gewann die meisten Medaillen in der WM-Geschichte: Mit 33 Edelplaketten (13 Gold/9 Silber/11 Bronze) waren die Gastgeber mit Abstand am erfolgreichsten. Äthiopien, Jamaika und Kenia folgen mit je zehn Medaillen. Sportliche Höhepunkte waren die drei Weltrekorde: Die Amerikanerin Sydney McLaughlin blieb in 50,68 Sekunden als erste Frau über 400 Meter Hürden unter 51 Sekunden. Die Nigerianerin Tobi Amusan verblüffte über 100 Meter Hürden mit fabelhaften 12,12 Sekunden, und Stabhochspringer Armand Duplantis aus Schweden steigerte seinen Weltrekord zum Abschluss auf 6,21 Meter.
Auf die Heim-EM in München freut sich Zehnkämpfer Niklas Kaul, der als Titelverteidiger angetreten war und WM-Sechster wurde. „Man hat die Chance, es besser zu machen“, sagte er. „Das war der erste Schritt in die Richtung, wo ich hin will.“ Die Frage an Malaika Mihambo, ob sie bei der EM wieder die große Retterin der deutschen Leichtathletik sein möchte, beantwortete sie diplomatisch: „Von den Leistungen her war ich in den letzten Jahren die Konstanteste.“
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