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Veröffentlicht am 16.05.2024 06:09

Oft fließen Tränen: Zöliakie bei Kindern

In der Gastroambulanz der Kinderklinik des Klinikums Dortmund finden Untersuchungen zur Zöliakie bei Kindern statt. (Foto: Bernd Thissen/dpa)
In der Gastroambulanz der Kinderklinik des Klinikums Dortmund finden Untersuchungen zur Zöliakie bei Kindern statt. (Foto: Bernd Thissen/dpa)
In der Gastroambulanz der Kinderklinik des Klinikums Dortmund finden Untersuchungen zur Zöliakie bei Kindern statt. (Foto: Bernd Thissen/dpa)

Jan Jonathan ist zehn Jahre alt und hält schon mehr als sein halbes Leben lang tagtäglich konsequent eine Diät ein, verzichtet auf viel Leckeres. Was für die Freunde normal ist, muss sich der Fünftklässler als Zöliakie-Erkrankter oft verkneifen.

Manchmal träumt der Junge ziemlich verzweifelt von Döner oder Eisdiele - alles tabu für ihn. Sobald er etwas zu sich nimmt, in dem Gluten enthalten ist, drohen ihm schlimme Bauchschmerzen, Durchfall, Erbrechen.

Zöliakie - was ist das?

Zöliakie ist keine Allergie, sondern eine chronische und lebenslange Autoimmunerkrankung. Unbehandelt kann sie starke Beschwerden auslösen, bei Kindern und Jugendlichen schwere Folgen wie Wachstumsverzögerungen, Gedeih- und Entwicklungsstörungen haben, wie Experten zum Welt-Zöliakie-Tag am 16. Mai betonen.

Kinder-Gastroenterologe Jens Berrang vom Klinikum Dortmund checkt Jan Jonathan gründlich durch. Das Kind lässt sich Blut abnehmen, ohne mit der Wimper zu zucken. Es ist bei Weitem nicht das erste Mal. „Manchmal ist es schon schlimm, wenn die anderen etwas Besseres zu essen haben“, erzählt der Junge dem Mediziner.

In die Schul-Mensa kann er nicht mitgehen. Denn: Das Klebereiweiß Gluten steckt in Getreidearten wie Weizen, Hafer, Gerste, Dinkel oder Roggen - und ist versteckt auch in ganz vielen Lebensmitteln und Gerichten enthalten. Und schon kleinste Mengen sind unverträglich. Tückisch. Wenn ihr Sohn Freunde besucht, auf Klassenfahrt geht oder zu Geburtstagen eingeladen ist, geben sie ihm glutenfreies Essen mit, erzählen seine Eltern Valentina und Robert. Sie haben sich von einer Ernährungsberaterin schulen lassen, daheim alles umgestellt.

Etwa eine Person unter hundert Menschen ist betroffen

Nach neueren Untersuchung ist laut Zöliakie Gesellschaft (DZG) davon auszugehen, dass etwa ein Prozent der Bevölkerung betroffen ist. Hinzu komme noch eine hohe Dunkelziffer. Viele Betroffene mit untypischen oder nur geringen Symptomen wüssten nicht von ihrer Autoimmunkrankheit.

Der Ausbruch der Erkrankung ist in jedem Lebensalter möglich. Im Kindesalter bleibt sie nach DZG-Einschätzung wegen manchmal schwacher Symptome jahrelang oder sogar jahrzehntelang unentdeckt. Laut Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ) erkranken Menschen häufig im Alter zwischen ein und acht Jahren oder dann später zwischen 20 und 50 Jahren. Der Dortmunder Mediziner Berrang sagt: „Bei manchen bricht es mit fünf Jahren aus, bei manchen mit 35 - wir wissen nicht, warum das so ist.“ In seine gastroenterologische Ambulanz kommen viele Kinder im Grundschulalter.

Es gibt zahlreiche Symptome und sie können unspezifisch sein

Anzeichen für Zöliakie können Durchfall, Bauchschmerzen, Blähungen, Übelkeit und Erbrechen sein, aber auch Gewichtsverlust und chronische Müdigkeit. Es gebe Patienten mit erhöhten Leberwerten, kreisrundem Haarausfall, chronischen Kopfschmerzen oder Migräne, erläutert die DZG.

Schon Gluten-Kleinstmengen führen zu einer Entzündung in der Darmschleimhaut. Der Körper bekämpft das Gluten, bildet Abwehrstoffe dagegen - und diese Antikörper greifen die Struktur des Dünndarms an, es kann zu einer Reihe von Problemen kommen. Auf Dauer kann die Dünndarmoberfläche so stark abnehmen, dass nicht mehr genug Nahrungsbestandteile vom Körper aufgenommen werden können und Mangelerscheinungen auftreten, erläutert der Kinderärzte-Berufsverband.

Jan Jonathan habe sich schon mit vier Jahren tagelang mit extremen Bauchschmerzen auf dem Boden gewälzt, schildert seine Mutter. Typisch sind auch ein dicker Blähbauch, klebriger Stuhl, starker Durchfall. Aber nicht immer sind die Symptome so schwer und offensichtlich, sie kommen viel häufiger unspezifisch daher - und das kann auch zu einer späten Diagnose führen, wie Jens Berrang erklärt.

Reizbares bis aggressives Verhalten und depressive Veränderungen würden ebenfalls beobachtet, ergänzt seine Kollegin Friederike Stemmann. „Zöliakie ist ein Chamäleon.“ Der Kinderärzte-Berufsverband nennt zudem Rachitis, Muskelschwäche, Schäden am Zahnschmelz oder Blutgerinnungsstörungen als mögliche Folgen einer unbehandelten Zöliakie.

Es geht nicht ohne Tränen

Auch Erstklässlerin Carlotta (7) aus Düsseldorf hält schon Diät - seit sie vier ist. „Ihr fällt es sehr schwer, dass sie als einzige nie einfach so zugreifen darf, dass sie immer nachfragen und sehr oft verzichten muss. Es geht nicht ohne Tränen“, sagt ihre Mutter Anna Maria.

„Das Unbeschwerte fehlt Carlotta durch die Erkrankung, für ihr Alter ist sie sehr vernünftig, wirkt schon fast erwachsen.“ Die allergrößte Angst des Mädchens: „Dass sie aus Versehen etwas Glutenhaltiges isst und sich dann übergeben muss, in der Schule oder bei Freundinnen.“

Schon seit dem Babyalter habe Carlotta enorm viel geschlafen, auffallend wenig gegessen und war leichtgewichtig. Immer wieder hakte die Familie in der Kinderarztpraxis nach, dann kam die Diagnose. In der Uniklinik werde das Kind gut versorgt. „Man merkt Carlotta nichts mehr an. Sie hat inzwischen ein normales Gewicht, ist normal groß und schläft normal.“

In Kita, Schulumfeld und Freundeskreis werde ihr viel Verständnis entgegengebracht. Und immer mehr Produkte ohne Gluten kommen auf den Markt. „Wir versuchen, ihr so oft wie möglich Alternativen anzubieten“, berichtet Carlottas Mutter.

Es gibt nur eine einzige Therapie

Regelmäßige Untersuchungen sind bei Zöliakie wichtig, auch Blutanalysen, weil sich nicht selten auch ein Mangel an lebenswichtigen Stoffen entwickelt hat. Eine Diagnose könne inzwischen recht einfach mit zwei Bluttests gestellt werden, weiß Jens Berrang. Auch in der niedergelassenen Ärzteschaft nehme das Wissen über die genetisch veranlagte Erkrankung zu. Medikamente gebe es bisher nicht. „Die einzige Therapie ist der vollständige und lebenslange Verzicht auf Gluten“, betont der Gastroenterologe.

Nicht alle komplexen Zusammenhänge bei Zöliakie sind geklärt. Es wird geforscht - auch mit Blick auf Medikamente. DZG-Sprecher Peter Wark schildert, mehr als ein Dutzend Kliniken und Studienzentren seien an der Entwicklung eines Mittels beteiligt, das die Folgen abmildern solle, wenn mal versehentlich etwas Glutenhaltiges verzehrt wurde. Wann es auf den Markt kommen könne, sei aber unklar.

Jan Jonathan greift derweil Zuhause in eine Schublade, die seine Mutter immer wieder mit der ein oder anderen glutenfreien Leckerei füllt. Und dem Schüler ist bei Lebensmittelprodukten eines längst zur Gewohnheit geworden: „Ich lese mir immer erst die Zutatenliste durch.“

© dpa-infocom, dpa:240512-99-02074/3


Von dpa
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