Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat Polen wegen Verstößen gegen wesentliche Prinzipien des EU-Rechts verurteilt. Durch die Missachtung der EuGH-Rechtsprechung habe der polnische Verfassungsgerichtshof gegen tragende Grundsätze wie den Vorrang, die Autonomie und einheitliche Anwendung des EU-Rechts verstoßen, entschieden die Richterinnen und Richter in Luxemburg. Außerdem sei der Verfassungsgerichtshof nicht unabhängig und unparteiisch gewesen. Die EU-Kommission hatte Polen vor dem EuGH verklagt.
Hintergrund des Falls sind zum einen zwei Urteile des polnischen Verfassungsgerichtshofs (Trybunal Konstytucyjny) aus dem Jahr 2021, in denen er sich weigerte, Entscheidungen des höchsten europäischen Gerichts anzuerkennen, weil sie aus seiner Sicht gegen die polnische Verfassung verstießen. Der EuGH überschreite seine Kompetenzen, wenn er sich in die polnische Justiz einmische, hieß es. Das höchste europäische Gericht stellte nun klar: Polen könne sich nicht auf seine Verfassungsidentität berufen, um sich gemeinsamen EU-Werten wie Rechtsstaatlichkeit, effektivem Rechtsschutz und richterlicher Unabhängigkeit zu entziehen. Sie seien für alle Länder, die der EU beitreten, bindend.
Zum anderen bemängelte der EuGH die Zusammensetzung des Verfassungsgerichtshofs. Es habe „schwerwiegende Unregelmäßigkeiten“ bei der Ernennung mehrerer Richter und der ehemaligen Präsidentin Julia Przylebska gegeben. Sie ist eine enge persönliche Bekannte des Vorsitzenden der nationalkonservativen Partei PiS, Jaroslaw Kaczynski.
Die PiS-Regierung führte das Land von 2015 bis 2023. In der Zeit baute sie das polnische Justizsystem um und schränkte damit nach Einschätzung von Experten die Gewaltenteilung ein. Der EuGH hatte angeordnet, bestimmte Reformen wegen Rechtsstaatlichkeitsbedenken auszusetzen. Später hatte er wiederholt wesentliche Teile der Justizreform für EU-rechtswidrig erklärt.
Nach der Regierungsübernahme durch den liberal-konservativen Donald Tusk hatte Polen die Verstöße bereits vollumfänglich anerkannt. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, die umstrittenen Neuerungen der PiS-Regierung rückgängig zu machen. Der EuGH musste die Vorwürfe dennoch prüfen. Finanzielle Sanktionen gab es durch das Urteil noch nicht: Sollte Polen dem Urteil nicht zügig nachkommen, könne die Kommission den Gerichtshof erneut anrufen und dann finanzielle Sanktionen beantragen, hieß es aus Luxemburg.
Tusk bewertet das Urteil positiv. „Das ist für uns das grüne Licht für die Reform des Verfassungsgerichts“, sagte er laut Nachrichtenagentur PAP. Nun werde es möglich sein, viele Richterstellen an dem Gerichtshof neu zu besetzen, da dort die Amtszeiten auslaufen würden. Auch könne ein neuer Präsident oder eine neue Präsidentin „auf ehrliche und gesetzmäßige Weise“ gewählt werden. Die umstrittene Richterin Przylebska ist seit gut einem Jahr nicht mehr am Verfassungsgerichtshof tätig.
Dass Europarecht dem nationalen Recht - und auch den Verfassungen - vorgeht, ist ein für das Funktionieren der EU wichtiger Grundsatz, den der Europäische Gerichtshof schon seit Jahrzehnten betont. Mehrere nationale Gerichte - darunter auch das deutsche Bundesverfassungsgericht - hielten aber fest, dass EU-Recht nicht in die nationale Verfassungsidentität eingreifen dürfe. Eine so offene und grundsätzliche Absage an den Vorrang des EU-Rechts wie das polnische Verfassungsgericht hatten die anderen Gerichte bisher jedoch nicht gewagt. Der Generalanwalt des EuGH hatte dem Trybunal Konstytucyjny eine „beispiellose Rebellion“ vorgeworfen.
Diesen Machtkampf der Verfassungsgerichte sprach der EuGH auch in der neuen Entscheidung an: Die nationalen Gerichte könnten die Grenzen der EU-Zuständigkeit nicht einseitig bestimmen, stellte er klar. Zweifel über Kompetenzüberschreitungen könnten „nur im Rahmen eines Dialogs mit dem Gerichtshof“ ausgeräumt werden, betonten die Luxemburger Richterinnen und Richter.
„Das Urteil richtet sich natürlich auch an alle anderen Verfassungs- und Höchstgerichte“, erläutert der Europarechtsexperte Franz Mayer von der Universität Bielefeld. Auch wenn der EuGH damit auf seinem Letztentscheidungsrecht insistiere, gebe es eine europarechtliche Weihnachtsbotschaft: dass es besser miteinander geht als gegeneinander.
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