Das vorläufige Scheitern der Richterwahl im Bundestag hat die schwarz-rote Koalition unmittelbar vor der Sommerpause in ihre erste handfeste Krise gestürzt. Wegen massiven Widerstands in der Unionsfraktion gegen die SPD-Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf wurden die Abstimmungen über die insgesamt drei Vorschläge für das Bundesverfassungsgericht kurzfristig von der Tagesordnung genommen.
Unter Druck steht jetzt vor allem Unionsfraktionschef Jens Spahn, der die Reihen der Union nicht rechtzeitig schließen konnte. Wie es weitergeht, ist offen. Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) warb dafür, die Wahlen in der nächsten regulären Sitzungswoche nachzuholen - also im September.
Der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Dirk Wiese, sprach vor der Absetzung der Richterwahlen von einer Beschädigung des Bundesverfassungsgerichts und einer „Hetzjagd“ gegen die „hochangesehene Juristin“ Brosius-Gersdorf, die vor allem wegen ihrer für viele in der Union zu liberalen Haltung zu Abtreibungen auf Vorbehalte stößt. Am Tag der Abstimmung kam der Vorwurf unsauberen wissenschaftlichen Arbeitens hinzu.
An die Adresse der Union sagte Wiese, dass die SPD in den vergangenen Wochen bei schwierigen Entscheidungen der Koalition „gestanden“ habe. „Ich erwarte zukünftig, dass bei solchen schwierigen Entscheidungen auch andere stehen.“ Eine deutliche Mahnung an den Koalitionspartner für die weitere Zusammenarbeit.
Die Opposition wertete die Absetzung der Richterwahlen als Desaster für Schwarz-Rot. Die Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann sprach von einem „schlechten Tag für das Parlament, für die Demokratie und für das Bundesverfassungsgericht“. Die Schuld dafür wies sie klar dem CDU-Politiker Spahn zu: „Es ist Ihre Unfähigkeit als Fraktionsvorsitzender.“
Die Linksfraktionschefin Heidi Reichinnek sprach von einem „absoluten Skandal“. Der AfD-Fraktionsgeschäftsführer Bernd Baumann warf der Regierung „absolute Instabilität“ vor.
Die Koalition hatte wochenlang Zeit, die Richterwahl vorzubereiten. Erst in der vergangenen Woche wurden aber Zweifel an Brosius-Gersdorf wegen ihrer Haltung zu ungeborenem Leben, aber auch wegen ihrer Forderung nach einer Impfpflicht während der Corona-Pandemie laut. Mehrere Dutzend Abgeordnete meldeten bei einer Abfrage durch die Fraktionsspitze Bedenken an.
Am Donnerstagabend wies der österreichische Plagiatssucher Stefan Weber dann auch noch auf Übereinstimmungen zwischen der Dissertation Brosius-Gersdorfs und der Habilitationsschrift ihres Ehemanns hin. Auf Nachfrage sagte er der Deutschen Presse-Agentur, er habe die Prüfung ohne Auftraggeber vorgenommen. Durch die Veröffentlichung kam aber eine neue Dynamik in die Debatte. Die Union drohte der SPD mit Enthaltung. Schließlich einigte man sich auf Absetzung der Tagesordnungspunkte.
Spahn wird nun vorgeworfen, dass er den Widerstand in seiner eigenen Fraktion unterschätzt hat. Der Unionsfraktionschef steht seit Wochen wegen der Affäre um die Beschaffung von Corona-Masken in seiner Zeit als Gesundheitsminister unter Druck.
Nach der Auseinandersetzung über die Stromsteuersenkung für alle ist es das zweite Mal, dass es zu offenem Streit in der Koalition kommt - in nur gut zwei Monaten Regierungszeit. Dabei hatte Kanzler Friedrich Merz (CDU) sich und seiner Regierung zum Ziel gesetzt, bis zum Sommer für bessere Stimmung in Deutschland zu sorgen. Vor allem wollte er aber eine Koalition ohne öffentlichen Streit - im Gegensatz zur Vorgängerregierung von SPD, Grünen und FDP, die letztlich am Dauerzoff zerbrochen ist.
Der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion, Steffen Bilger, versuchte im Bundestag zu beschwichtigen. Er widersprach der Auffassung, dass das Bundesverfassungsgericht beschädigt sei. Die Debatte über die Richterwahl habe „zum Teil auch jegliches Maß verloren“, kritisierte er.
CSU-Landesgruppenchef Alexander Hoffmann sagte, die Verschiebung der Abstimmung sei „geprägt von unserer gemeinsamen Verantwortung, das Ansehen des Bundesverfassungsgerichts zu schützen und zu wahren“. Innerhalb der Koalition würden nun Gespräche darüber geführt, „wie eine Wahl von Verfassungsrichtern im Bundestag gelingen kann“.
Aus der SPD wurde klargemacht, dass es für die Fraktion keinen Grund gebe, von der Kandidatin Brosius-Gersdorf abzurücken. Die Frage ist, ob sie angesichts massiver Anfeindungen in sozialen Medien selbst weiterhin bereit ist, sich in das Verfassungsgericht wählen zu lassen.
Unmittelbaren Zeitdruck bei der Nachbesetzung der frei werdenden Richterstellen gibt es nicht. Je nach zu besetzender Richterstelle gelten unterschiedliche Fristen. Ab einem bestimmten Zeitpunkt können die Länder im Bundesrat anstelle des Bundestags die Nachfolger wählen - sie müssen es aber nicht, genauso gut kann weiter der Bundestag entscheiden. Für die Koalition wird die Frage jedenfalls eine Belastung bleiben.
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