Mit dem Eis wurde es nichts für die Zehntklässler eines Gymnasiums aus dem rheinland-pfälzischen Germersheim. Das hatte der AfD-Politiker Stephan Brandner versprochen - für den Fall, dass er vor dem höchsten deutschen Gericht gewinnt. Doch an einen Erfolg glaubt er im Foyer des Bundesverfassungsgerichts kurz vor dem Urteil selbst nicht mehr.
Wenige Minuten später die Gewissheit: Die AfD scheitert in Karlsruhe mit zwei Organklagen, ihr Recht auf Vorsitzposten in Bundestagsausschüssen feststellen zu lassen. Sowohl die Wahlen zur Bestimmung der Ausschussvorsitze als auch die Abwahl Brandners vom Vorsitz des Rechtsausschusses bewegten sich im Rahmen der Geschäftsordnungsautonomie des Bundestags, sagte die Vorsitzende Richterin des Zweiten Senats, Doris König.
In der aktuellen Legislaturperiode hatten Kandidaten der AfD bei Wahlen zum Vorsitz von drei Bundestagsausschüssen die erforderliche Mehrheit verpasst - und damit keinen Ausschussvorsitz bekommen, obwohl der Fraktion nach ihrer Stärke drei Posten zustehen würden. Die AfD sah ihre Rechte auf Gleichbehandlung als Fraktion, auf effektive Opposition und auf faire und loyale Anwendung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags verletzt und wandte sich mit einer Organklage an den Senat in Karlsruhe (Az. 2 BvE 10/21).
Nach der Geschäftsordnung des Bundestags bestimmen die Ausschüsse ihre Vorsitzenden und deren Stellvertreter „nach den Vereinbarungen im Ältestenrat“. Faktisch gibt es ein unter den Fraktionen abgesprochenes Verfahren, das sich nach der Stärke der einzelnen Fraktionen richtet. Durch sie wird eine Reihenfolge festgelegt, nach der die Fraktionen Zugriff auf Ausschussvorsitze haben. Fraktionen dürfen selbst entscheiden, in welchem der noch freien Ausschüsse sie Vorsitzende stellen. An die AfD waren so der Innen- und der Gesundheitsausschuss sowie der Ausschuss für Entwicklungszusammenarbeit gefallen.
Eine Wahl der Vorsitzenden durch den Ausschuss ist unüblich. Normalerweise wird die Personalentscheidung durch die anderen Fraktionen akzeptiert. Dies war zu Beginn der laufenden Wahlperiode aber dort anders, wo die AfD den Vorsitzenden stellen sollte. Hier verlangten die anderen Ausschussmitglieder eine Wahl, bei der sie dann den AfD-Kandidaten durchfallen ließen. Derzeit leiten die Vize-Vorsitzenden die betroffenen Ausschüsse.
Die Fraktionen seien zwar gleich und entsprechend ihrer Stärke zu behandeln, betonte Verfassungsrichterin König bei der Urteilsverkündung. Die Mitwirkungsbefugnis erstrecke sich dabei auch auf die Bundestagsausschüsse - grundsätzlich müsse jeder Ausschuss ein verkleinertes Abbild des Plenums sein. Dieser Grundsatz der Spiegelbildlichkeit gelte aber nicht für Gremien und Funktionen lediglich organisatorischer Art, wie es ein Ausschussvorsitz sei.
Gestaltung, Auslegung und Anwendung der Geschäftsordnung des Bundestags unterliegen nur einer eingeschränkten verfassungsgerichtlichen Kontrolle, so das Gericht. „Bei der Gestaltung seiner inneren Organisation und des Geschäftsgangs kommt ihm ein weiter Spielraum zu.“ Die Ausgestaltung des Besetzungsverfahrens sei eine innere Angelegenheit des Parlaments, die dieses im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung autonom regeln könne. Mit der Wahl von Ausschussvorsitzenden werde der Grundsatz einer fairen und loyalen Auslegung der Geschäftsordnung des Bundestags gewahrt.
Erfolglos blieb auch die Klage gegen die Abwahl des damaligen Rechtsausschuss-Vorsitzenden Stephan Brandner im November 2019 (Az. 2 BvE 1/20). Nach mehreren Eklats hatten in der letzten Legislaturperiode alle Ausschussmitglieder mit Ausnahme der AfD-Abgeordneten für dessen Abberufung gestimmt - ein einmaliger Vorgang in der Geschichte des Bundestags.
Dass der Ausschuss selbst für eine etwaige Abwahl zuständig war, sei vertretbar, urteilte der Senat. Sie sei zudem nicht willkürlich erfolgt. Vor dem Hintergrund einer Reihe von Vorfällen hätte die Mehrheit der Ausschussmitglieder das Vertrauen in den Vorsitzenden und seine Fähigkeiten verloren, sodass eine effektive Zusammenarbeit im Ausschuss aus ihrer Sicht nicht mehr möglich gewesen sei. Vertrauen sei aber wichtig für eine effiziente Ausschussarbeit. Die Entscheidung des Senats erging einstimmig.
Der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Johannes Fechner, sprach nach dem Urteil von einem guten Tag für den Parlamentarismus. Er kündigte zugleich an, dass die Regierungsfraktionen eine Präzisierung der Geschäftsordnung des Bundestags vorschlagen. „Danach sollen künftig sowohl die Vorsitzenden von Ausschüssen, aber auch die Schriftführer im Präsidium des Deutschen Bundestages nach klaren Regeln abgewählt werden können.“
Das Gericht habe die Geschäftsordnungsautonomie des Bundestags als Kernbereich der Parlamentsautonomie gestärkt, meinte Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU), die Vorsitzende des Rechtsausschusses. „Der Bundestag kann seine inneren Angelegenheiten, also auch die der Besetzung organisatorischer Funktionen in eigener Verantwortung regeln.“ Die Abwahl Brandners sei nach einer Reihe von Vorfällen, unter anderem wegen Tweets zum rechtsextremistischen Anschlag von Halle, zulässig gewesen. Stephan Thomae von der FDP betonte: „Ausschussvorsitzende sind auf das Vertrauen des Ausschusses angewiesen, deshalb ist es auch möglich, sie abzuwählen.“
Der Vize-Vorsitzende des Entwicklungsausschusses, Christoph Hoffmann, hält eine Besetzung seines Ausschusses mit einem Vorsitzenden aus der AfD „unseren Partnern im globalen Süden nur schwer erklärbar“. Die Entwicklungszusammenarbeit sei eine Art Visitenkarte Deutschlands. „Wenn diese Visitenkarte einen Politiker mit völkischen oder rassistischen Tendenzen ausweist, wäre das mehr als problematisch, ja schädlich für unser Land.“
Der mit seiner Klage gegen die Abwahl unterlegene AfD-Politiker Brandner sprach von einem „schwarzen Tag für den Parlamentarismus“. Es sei um eine Verhinderung der AfD gegangen. Zugleich würden die Rechte der Opposition erheblich geschwächt. Die Mehrheit könne diktieren. Doch das sei für die jetzige Mehrheit ein Pyrrhussieg: „Mehrheiten können sich ändern.“
Die Hauptgeschäftsführerin des Deutschen Anwaltvereins, Sylvia Ruge, begrüßte den Karlsruher Richterspruch. Ausschüsse müssten selbst die Möglichkeit haben, ihre Vorsitzenden zu wählen und auch abzuwählen, wenn diese sich für ihre Position disqualifizieren. „Dass das Bundesverfassungsgericht dieses Recht gestärkt hat, ist ein wichtiges Zeichen.“
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