„Vélodyssée“ am Meer: Mit dem Rad den Atlantikwall entlang | FLZ.de | Stage

arrow_back_rounded
Lesefortschritt
Veröffentlicht am 23.04.2025 00:08

„Vélodyssée“ am Meer: Mit dem Rad den Atlantikwall entlang

Auf Schotter in die Geschichte: eine Fahrradfahrerin auf der Vélodysée. (Foto: Deike Uhtenwoldt/dpa-tmn)
Auf Schotter in die Geschichte: eine Fahrradfahrerin auf der Vélodysée. (Foto: Deike Uhtenwoldt/dpa-tmn)
Auf Schotter in die Geschichte: eine Fahrradfahrerin auf der Vélodysée. (Foto: Deike Uhtenwoldt/dpa-tmn)

Wild gestikulierend weicht er aus. „Ah, ces touristes“ – immer diese Touristen - raunt der Rennradfahrer, als er der Gruppe Ausflügler ausweicht. Aber er hat recht. Denn voll kann es werden auf dem Küstenradweg südlich von Les Sables d'Olonne.

Und wer hier auf zwei Rädern unterwegs ist, sieht sich mitunter zu einem fortwährenden Stop-and-Go verleitet. Zu vielfältig sind die Fotomotive. Der Meerblick ist schön, Seevögel schwirren umher. Manchen Besucher zieht es auch auf eine Befestigungsanlage, ein „Blockhaus“, am felsigen Abgrund, dahinter das weite Meer. 

Diesen unverbauten Blick über den Atlantik machten sich vor über 80 Jahren die deutschen Besatzer zunutze. Sie errichteten Bollwerke und Bunker, um sich mit diesem sogenannten Atlantikwall gegen die erwartete Invasion der Westalliierten zu wappnen. 

Heute kann man auf dem europäischen Radfernweg Atlantikküsten-Route auf historischen Spuren radeln. Über 10.000 Kilometer ist er insgesamt lang, zieht sich von Norwegen bis Portugal. Der Abschnitt in Frankreich, auf dem ich unterwegs bin, nennt sich „Vélodyssée“. Für historisch Interessierte besonders lohnenswert ist der Abschnitt zwischen Les Sables d’Olonne und La Rochelle.

Verminte Gemüsegärten

Der Atlantikwall war mehr Bluff als Befestigungsschutz. Anlagen und Bunker blieben größtenteils unvollendet. Was aber gebaut wurde, ist teils erhalten geblieben. Zu den Relikten zählen verbunkerte Unterstände an der Küste, ein „Blockhaus“-Krankenhaus im Zentrum von Les Sables-d’Olonne, das heute als Museum dient, oder die alte Befestigungsanlage Fort Saint-Nicolas an der Hafeneinfahrt der 50.000-Einwohner-Stadt. Sie wurde in den Atlantikwall integriert.

Nahe der Küste wurden auch Gemüsegärten konfisziert - und vermint: „Die Deutschen schirmten sich von allen Seiten ab, aber es hat ihnen nichts genützt“, so der Lokalchronist Roland Mornet.

Der frühere Kapitän forscht zur Geschichte der Seefahrt in Les Sables-d'Olonne, seiner Heimatstadt. Dort feierte er schon im vergangenen Jahr den 80. Jahrestag der Befreiung von den deutschen Besatzern. In diesem Jahr kann er das 100 Kilometer weiter südlich an seinem Zweitwohnsitz in La Rochelle erneut tun.

Der letzte befreite Posten

Denn in der westfranzösischen Hafenstadt wurde die Kapitulation erst am 9. Mai 1945 unterzeichnet. Noch zwei Tage länger war die Poche de Saint-Nazaire unter der Kontrolle der Besatzer. Die Festung 200 Kilometer nördlich von La Rochelle ist damit der letzte Posten, der befreit wurde - drei Tage nach der offiziellen Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945.

„Im August 1944 beschloss die deutsche Führung, die Küste und die Nebenhäfen aufzugeben, nicht aber die großen Häfen wie Saint-Nazaire, La Rochelle-Pallice und Bordeaux“, sagt Mornet. In La Pallice, dem Industriehafen von La Rochelle, hatten die Deutschen einen gewaltigen U-Boot-Bunker errichtet. Gerade er sollte nicht in die Hände der Alliierten fallen.

Also zogen die Besatzer auch hier eine „Poche“ - zu Deutsch Tasche - um Stadt und Hafen: geöffnet zum Atlantik, an den drei übrigen Seiten geschützt durch Truppen, Artillerie und Verteidigungsanlagen.

Was ist 80 Jahre später von dieser deutsch-französischen Geschichte noch übriggeblieben, frage ich mich, als ich in Les Sables d’Olonne auf den Sattel steige. Rechts das Meer, links imposante Stadtvillen und vor mir ein Radweg, den ich nur gelegentlich mit Autofahrern oder Fußgängern teile. Jede weitere Navigationshilfe benötigt man übrigens nicht: Der Fernradweg ist gut beschildert. Kiefern- oder Pinienwälder gewinnen Oberhand, das Meer weicht später Feuchtgebieten.

Schier endloser Sandstrand

In Saint-Vincent-sur-Jard ereilt Radreisende erneut die Kriegsgeschichte, wenn auch frühere. Hier bewohnte der Staatsmann der dritten Republik Georges Clemenceau direkt am Meer ein Bauernhaus mit großem Garten. Heute ist das Refugium des ehemaligen französischen Ministerpräsidenten, der bei der Pariser Friedenskonferenz 1919 gegenüber Deutschland eine harte Linie vertrat, ein Museum. 

Von Saint-Vincent-sur-Jard bis La Rochelle sind es entlang der Vélodyssée noch 70 Kilometer. Ich passiere La Tranche-sur-Mer mit seinem schier endlosen Sandstrand, folge unzähligen Deichen, Kanälen und überquere das Mündungsgebiet der Sèvre Niortaise. Der Fluss war die nördliche Grenze der Poche von La Pallice. 

Der U-Boot-Bunker, den die Wehrmacht mit der Poche schützen wollten, liegt immer noch im Verborgenen: Der Zutritt ist verboten, das Areal gehört zum Industriehafen. Nur per Boot kann man sich ein Bild von dem fast 200 Meter breiten Betonklotz machen, den die Wehrmacht ab 1941 erbaute.

Oder man begibt sich gleich ins Zentrum von La Rochelle, an den Ort, an dem die 3. U-Bootflottille feierte, wenn sie nicht unter Wasser ihr Leben aufs Spiel setzen musste: Hier hatten die Deutschen zeitgleich mit dem Bau der U-Boot-Basis heimlich einen Bunker unter einem konfiszierten Hotel errichtet. Heute ein Museum, das die Geschichte von Besatzung und Widerstand dokumentiert.

Über Jahrzehnte unter Verschluss

Auf dem Weg in ihr Büro kommt Claudie Léger, die stellvertretende Museumsleiterin, hier täglich an einer eisernen Tür mit der Aufschrift „Fernschreibstelle! Zutritt nur dienstlich“ vorbei und schaut am Treppenabgang auf das Fresko einer schwarzen Katze. Es ist das Symbol der 3. U-Boot-Flottille und führt zu einer Bar, in der die deutschen U-Boot-Offiziere ihr Überleben feierten, solange es noch ging. „Die durchschnittliche Lebenserwartung im U-Boot-Einsatz betrug nur drei Wochen“, sagt Léger. 

Dass der Bunker samt alter Technik die Zeiten überdauerte, liegt auch daran, dass er über Jahrzehnte unter Verschluss war: Der enteignete Besitzer holte sich sein Hotel nach Kriegsende zurück und verschloss den Keller. „Er war nicht gerade stolz darauf“, so Léger.

Erst bei einem Weiterverkauf in den 1980er Jahren wurde der Bunker wiederentdeckt und zum Museum umgebaut, das heute vor allem von Touristen aus Deutschland besucht wird. In einem Themenabschnitt zur Mobilität erfahren die Gäste übrigens, dass Radfahren zur Zeit der Besatzung an Bedeutung gewann – mangels Alternativen. Wie passend zu dieser Geschichtstour auf zwei Rädern! 

Inzwischen bietet allein La Rochelle ein Fahrradwegenetz von 230 Kilometern. In den Sommermonaten wird es dort schon mal eng, und nicht jeder macht eine Gedenktour im Sattel. Dann kann ein passionierter Radrennsportler schon mal ungeduldig werden: „Ah, ces touristes!“ Gründe zu kommen, haben sie aber reichlich.

Links, Tipps, Praktisches:

Reiseziel: Der beschriebene Abschnitt der Radwanderroute „Vélodyssée“ entlang der französischen Atlantikküste ist etwa 115 Kilometer lang. Er führt von Les Sables d'Olonne in der Region Pays de la Loire bis La Rochelle in Nouvelle-Aquitaine.

Der Radfernweg: Einen Überblick über die Etappen verschafft die Website cycling-lavelodyssee.com. Zur Planung kann auch die Website de.francevelotourisme.com herangezogen werden. 

Radverleih: Bei paulette.bike kosten Trekkingbikes 22 Euro am Tag, E-Bikes 35 Euro; leiht man länger, reduzieren sich die Tagespreise. Einen kostenpflichtigen Bring- und Abholservice von Leihfahrrädern bietet auch bicybags.com

Anreise: Mit dem Zug über Paris und Nantes bis Les Sables d'Olonne, Radmitnahmemöglichkeiten sind begrenzt. Mit dem Auto ist man etwa ab München rund 13 bis 14 Stunden unterwegs, ab Frankfurt am Main drei Stunden weniger. 

Beste Reisezeit: April bis Juni, dann wieder September und Oktober. Ich Hochsommer kann es für sportliche Aktivitäten selbst an der Küste zu heiß werden. Aktivitäten: Das Musée du Blockhaus Hôpital in einem deutschen Lazarettbunker von 1943 in Les Sables d’Olonne umfasst 20 Räume, die noch vollständig mit Originalausstattung eingerichtet sind. Der reguläre Eintrittspreis liegt bei 9,50 Euro. Den gleichen Eintritt verlangt das Museum Bunker La Rochelle. Mit Gedenkausstellungen und Events feiert La Rochelle den 80. Jahrestag seiner Befreiung. Wer es bis Saint-Nazaire schafft, kann dort das Musée Le Grand Blockhaus besuchen.

Weitere Auskünfte: larochelle-tourismus.de

© dpa-infocom, dpa:250422-930-458834/1


Von dpa
north