Wenn Anna König (Name geändert) über ihre Töchter spricht, leuchten ihre Augen. Sie erzählt von den Klassenkameraden, die regelmäßig ihren Esstisch bevölkern. Von kleinen Liebesbriefchen, spontanen Bastelaktionen, aber auch schwierigen Momenten und Problemen in der Schule. „Wir lieben unsere Töchter. Und ich glaube nicht, dass es die biologische Elternschaft braucht, um mit einem Kind verbunden zu sein.“
König ist eine von Zehntausenden Pflegemüttern in Deutschland, die den teils herausfordernden Alltag mit Pflegekindern meistern. Nach Menschen wie ihr wird derzeit händeringend gesucht.
„Der Bedarf nach geeigneten privaten Familien, die vorübergehend oder dauerhaft ein Kind in Pflege nehmen, ist ganz klar steigend“, sagt Ulrike Schulz, Vorsitzende des Bundesverbands der Pflege- und Adoptivfamilien. Jährlich fehlten etwa 4000 neue Familien, schätzt sie. Viele Pflegeeltern der geburtenstarken Jahrgänge gingen in Rente, zu wenige kämen nach. Auch der deutsche Landkreistag berichtet von einem Mangel an Pflegefamilien. Die familiären Verhältnisse würden immer schwieriger, die Fallzahlen bei stationären Unterbringungen und die der potenziellen Pflegekinder stiegen an, so ein Sprecher.
Im Jahr 2022 lebten nach Angaben des Statistischen Bundesamts 86.000 junge Menschen in Pflegefamilien. Das waren deutlich mehr als zehn Jahre zuvor, aber weniger als in den Jahren nach 2015, als viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nach Deutschland kamen. Etwa jedes fünfte Pflegekind hat demnach körperliche oder psychische Misshandlungen oder sexuelle Gewalt erfahren. Bei weiteren 15 Prozent gingen die Jugendämter von überforderten Eltern aus. Für 2023 liegen noch keine Zahlen vor.
Pflegemutter König spricht vom „mit Steinen bepackten Rucksack“, mit dem sich Pflegeeltern bei der Aufnahme eines Kindes auseinandersetzen müssen. „Da sind eine Menge Erlebnisse vorhanden. Und da geht es darum, dass man sich überlegt: Was braucht das Kind für eine gute Entwicklung und wie können wir hier einen sicheren Ort schaffen?“ Ihr Familienalltag unterscheide sich auch vom Alltag anderer Familien. „Wir haben deutlich mehr mit Unsicherheiten, Ängsten und Impulsen zu tun. Das macht es auch etwas herausfordernder.“
Werden Kinder aus ihren Familien genommen, erleben sie trotz negativer Erfahrungen einen Bindungsabbruch, erklärt die Psychologin Ina Bovenschen vom Deutschen Jugendinstitut. „Der bedeutsamste Faktor ist das, was nach dem Wechsel passiert - also das, was die Pflegeeltern anbieten. Die sind ganz entscheidend für die Bindungsentwicklung.“ Den meisten Pflegekindern gelinge es, sichere Bindungen aufzubauen.
Die Anforderungen an angehende Pflegeeltern sind entsprechend groß, führt Silvia Viernickel vom Jugendamt in Erfurt aus. „Wir müssen uns ganz sicher sein, dass die Familien ein ganz festes Bindungsangebot geben können.“ Der Beratungs- und Überprüfungsprozess im Vorfeld dauere etwa neun Monate. Auch bei der Vermittlung werde genau darauf geachtet, dass das Kind und die Familie gut zusammenpassten. Das führe im Umkehrschluss aber auch dazu, dass einige Familien länger auf ein Pflegekind warten müssten - und gleichzeitig der Bedarf an neuen Eltern weiter hoch sei. Derzeit suche das Jugendamt für etwa zehn Kinder nach einer passenden Familie.
Doch selbst wenn Eltern und Kind perfekt zusammenpassen, lassen sich nicht alle Wunden heilen, wie Psychologin Bovenschen erklärt: „Anlass zu Sorge bereitet uns das Ausmaß an Bindungsdesorganisation, das wir bei Pflegekindern sehen“. Das sei ein Risikofaktor für psychische Auffälligkeiten. Diese könnten sich in Form von Angst, Rückzug, depressiven Stimmungen, aber auch als aggressives oder dissoziales Verhalten äußern. Studien zeigten, dass ein Teil der Pflegekinder trotz positiver Erfahrungen in den Pflegefamilien davon betroffen ist. „Die negativen Vorerfahrungen scheinen hier also längerfristig zu wirken.“ Teils suchten Pflegekinder auch keinen Trost bei Belastungen oder seien distanzlos oder überfreundlich bei Fremden.
Generell brauche es mehr Beratungsangebote, fordert Bovenschen: „Da gibt es bisher eine Versorgungslücke. Und das ist auch ein Punkt, weswegen es schwierig ist, Familien zu finden, die sich dieser Aufgabe widmen.“ Ihr Institut plane aktuell ein deutschlandweites Angebot.
Ulrike Schulz vom Bundesverband der Pflege- und Adoptivfamilien wünscht sich bundesweite Mindeststandards für die Leistungen für Pflegefamilien. Es gebe engagierte und innovative öffentliche und private Träger, aber auch Träger, wo sich Pflegefamilien nicht wertgeschätzt und gut betreut fühlten. Auf der Suche nach Pflegeeltern drückten Politik und Jugendhilfe zudem öffentliche Anerkennung aus - das seien aber häufig nur „Sonntagsreden“.
Dazu kommt ein finanzieller Aspekt: Wer sich um Pflegekinder kümmere, müsse sich auf weniger Einkommen und Rentenleistungen einstellen, erklärt Schulz. Viele Bundesländer orientieren sich bei der Bezahlung des Pflegegelds an Empfehlungen des Deutschen Vereins. Für 2024 schlug der Verein etwa 1151 Euro an Pauschalbeträgen für Kinder bis zu sechs Jahren vor und damit etwa ein Viertel mehr als noch 2023. Das sei ein Anfang, aber nicht genug, so Schulz. Der Verband fordert daher ein Pflegeelterngeld zusätzlich zum Pflegegeld. Für die Kommunen ist die Unterbringung bei Pflegefamilien auch deutlich günstiger als in Heimen, wie Silvia Viernickel vom Erfurter Jugendamt erklärt: „Bei einem Heimplatz reden wir von ungefähr 200 Euro täglich - Tendenz steigend.“
Geld dürfe aber ohnehin keine Motivation sein, meint Pflegemutter Anna König. „Wenn man eine Arbeit hat, ein Einkommen und eine gefestigte Wohnsituation, dann ist es doch toll, wenn man das teilen kann.“ In Kindern steckten viele tolle Potenziale. „Das ist wie bei einer Schatzsuche und in jedem Kind lassen sich Schätze entdecken.“
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