Dieses Buch sollte es eigentlich nie geben. Und dann ist es auch noch ein ganz überraschender Stoff geworden - erstmals nicht fiktiv und mit ungewöhnlich viel persönlichen Schilderungen. Benedict Wells verrät in seinem neuen Titel „Die Geschichten in uns. Vom Schreiben und vom Leben“ so viel Privates wie nie zuvor. Der heute 40-jährige Bestsellerautor hatte mit 19 Jahren seinen ersten Roman verfasst und galt schon einige Jahre später als junges Ausnahmetalent.
Nun wollte er nach seinem letzten Roman „Hard Land“ (2021) eigentlich eine Pause vom Schreiben machen, sagt Benedict Wells der Deutschen Presse-Agentur. Aber dann gab es auf der Lese-Tour zu „Hard Land“ viele Fragen an ihn zu seinem Schreibprozess, während der Pandemie konnten dann viele Menschen nicht zu seinen Lesungen kommen - und so wollte er dazu vor seiner geplanten Auszeit einen Text für seine Homepage verfassen.
Das sei ihm „spektakulär entglitten“, berichtet der Autor: „Ich konnte einfach nicht aufhören und spürte eine große Leidenschaft für dieses Thema, und am Ende wurde es ein Buch.“
Für den neuen Titel - er erscheint an diesem Mittwoch (24. Juli) - kehrt er an Kindheitsorte zurück, erinnert sich an den Fünfjährigen in seinem Zimmer in München, der bald für einige Monate in die Schweiz ziehen wird, weil die Eltern sich trennen. Denkt zurück an das Chaos zu Hause, an den kleinen Jungen, der „im Grunde nicht stattfindet“ und der „später Romanfiguren als Masken benutzen und seine Gefühle hinter ihren Gefühlen verstecken wird.“
Diesen Jungen müsse er nun gegen seinen Willen „in dieses Buch schubsen.“ Kindheit und Aufwachsen könne er nicht ausblenden, wenn er über sein Werden als Autor schreibe. Eine Autobiografie sei es aber nicht. Mit sechs kommt Benedict ins Heim, verbringt 13 Jahre in bayerischen Internaten. Schon als Kind liest er viel - sogar nachts auf der Toilette. „Lesen kann einen retten.“ Als Teenager ist er ein „unsicherer schüchterner Spätzünder“.
Zu seinem als chaotisch beschriebenen Vater und seiner mehrfach in der Psychiatrie untergebrachten Mutter hat er zwar eine liebevolle Beziehung, sie inspirieren ihn, verschaffen ihm früh Zugang zur Literatur. Aber sie waren „versehrt“. Er wuchs mit ihren „Lebensbrüchen“ auf, lebte im totalen Durcheinander. „Nichts passte zusammen, und nichts davon konnte ich artikulieren, eine auf stumm geschaltete Seele über Jahre“, schildert Wells, der stets berührend, feinfühlig, zart schreibt.
Ein eigener Weg zum Schriftsteller scheint für den Heranwachsenden versperrt. O-Ton eines Oberstufen-Lehrers, bei dem es in Deutsch nur zur Note Vier reichte: „Äh, Benedict, haben S’ nix anderes, was Sie als Leistungskurs nehmen können?“ Wells will nach dem Abi aber unbedingt Autor werden, zieht nach Berlin - mit 120 Euro in der Tasche und vielen Buchideen im Kopf. Die Zeit bis zur ersten Veröffentlichung war hart - eigene Zweifel, Abblitzen bei Verlagen, schlauchende Nebenjobs, Ebbe im Portemonnaie.
Das alles schildert Wells nicht schwermütig, sondern in leichtem Tonfall, auch mit Augenzwinkern, Humor, offenherzig - und sehr lesenswert. „Vor zehn Jahren hätte ich nicht mal diese wenigen Zeilen über meine Kindheit und Jugend geschafft.“ Und: Schmerz könne „kräftige Tinte“ sein, allerdings müsse der Schmerz erst erkalten. Die Seiten zeugen von einem zurückhaltenden, bescheidenen, selbstkritischen Menschen, der ungern im Mittelpunkt steht - trotz Erfolgs.
Auf den ersten Roman „Spinner“, den er mit 19 Jahren schrieb, der aber erst 2009 erschien, folgte „Becks letzter Sommer“ (2008), der später zudem verfilmt wurde. Der dritte Roman „Fast genial“ (2011) hielt sich lange in den Bestsellerlisten. „Vom Ende der Einsamkeit“ (2016) wurde in 38 Sprachen übersetzt, es folgte der Kurzgeschichtenband „Die Wahrheit über das Lügen (2018) und „Hard Land“ (2021) - und es gab viele Auszeichnungen. Den neuen Titel nennt der Diogenes Verlag ein „erzählendes Sachbuch“.
Statt die geplante Schreibpause zu machen, erzählt Wells nun also von der Magie und Faszination des Schreibens, teilt seine Erfahrungen und Erkenntnisse als Schriftsteller: Wie man mit Krisen umgeht und ganz konkret, wie Figuren im Roman lebensnah und lebendig werden, Dialoge gelingen, sich Spannung erzeugen lässt - wie schwierig das Schreiben sein kann und zugleich glücklich macht.
Auch ungewohnt für Wells, der nach Jahren in Barcelona aktuell in Zürich lebt: Die Leser und Leserinnen spricht er direkt an. Die Arbeit an einem Roman sei „ein Weg, auf dem man sich selbst verändert.“ Und: „Man wird mit jedem Buch aufs Neue erwachsen.“ Ihn inspirieren auch Filme, Musik, andere Romane, Ausstellungen. Er selbst sei beim Schreiben ein Chaos-Typ mit einer hohen Quote schlechter Rohfassungen.
Er mache sich nie große Gedanken, an wen genau sich ein Text richten solle, erzählt Wells der dpa. „Ich wollte dieses Mal ein Sachbuch schreiben, das sich wie ein Roman anfühlt, aber vor allem wollte ich etwas schreiben, das mir Spaß macht – und hoffentlich vielleicht noch ein paar anderen, die selbst Geschichten erzählen wollen oder die sich für Literatur interessieren.“
Der 40-Jährige verrät: „Ich bin nun an meinem Punkt, in dem ich mir vieles vorstellen kann. Aktuell studiere er - „eine der besten Entscheidungen meines Lebens“. Welches Studienfach es ist, möchte er aber für sich behalten. „Ich war bereits für Philosophie und Soziologie eingeschrieben, mache nun aber etwas, das deutlich künstlerischer ist und mich wirklich herausfordert. Es ist schön, noch einmal etwas Neues zu lernen, zu scheitern und es demütig erneut zu versuchen.“
Er vermisse das Schreiben aber bereits - denke momentan eher an Genres wie Kurzgeschichten, an ein Theaterstück oder ein Sachbuch über den Umgang mit Trauer und Verlust, sagt Wells. „Ich habe aber auch Ideen für Romane, nur würde das noch mehrere Jahre dauern, denn erst mal möchte ich mein Studium beenden.“
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