Wenn der Sohnemann das Schäufelchen zum Schwert umwandelt und aus der Spielplatzbuddelei plötzlich ein Faustkampf wird, stehen den meisten Eltern die Schweißperlen auf der Stirn. Prügelnde Kinder sind nicht gerngesehen, und das gilt schon lange auch für Jungs. Durchsetzen sollen sie sich aber schon. Am besten mit Worten.
Doch was, wenn das nicht reicht? Zu welchen Männern erziehen wir unsere Jungen gerade? Was macht den Mann von morgen aus? Und wie unterstützt man Jungen dabei, ihre geschlechtliche Identität zu finden?
Coolness, Souveränität, Durchsetzungsfähigkeit - Männlichkeitsanforderungen nennen Wissenschaftler das, was die Gesellschaft traditionell von Jungen erwartet. „Diese Anforderungen umfassen alle Grundhaltungen, die als männlich wahrgenommen werden“, sagt Stephan Höyng, Professor für Jungen- und Männerarbeit an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen in Berlin. Aber ist das wirklich immer noch so?
Ein Blick zurück: Traditionelle Männlichkeitsvorstellungen zeichneten ein sehr enges Bild vom heterosexuellen, großen, muskulösen und erfolgreichen Mann, erklärt Reinhard Winter, Diplompädagoge, Autor und Dozent am Sozialwissenschaftlichen Institut Tübingen. Jahrzehntelang war dies das gängige Männlichkeitsideal. Wer ihm entsprach, hatte es leicht. Wer jedoch aus dem Raster fiel, wurde oft abgewertet und ausgegrenzt.
Auch wenn dem traditionellen Männlichkeitstyp in der Wissenschaft noch große Bedeutung zukommt, entsprächen die allerwenigsten jungen Männer diesem Ideal heute noch. „Gemessen daran leben wir heute in einem Paradies, in dem jeder die Möglichkeit hat, sich selbst zu entfalten. Das ist erst mal ein großer Vorteil“, sagt Winter. „Andererseits muss ich herausfinden, wer ich eigentlich bin. Die individuelle Entwicklungsaufgabe ist damit ein Stück größer geworden.“
Der Pädagoge erklärt: „Es gibt so etwas wie einen modernisierten Männlichkeitstyp. Er ist selbstkritisch, anständig und kultiviert. Aber wenn es darauf ankommt, kann und soll er die volle Energie ausleben. Diese Fähigkeit der Selbstregulation ist meiner Ansicht nach das, was aktuell als dominantes Männlichkeitsideal besteht.“
In den richtigen Momenten Aggressionen zeigen, Vollgas geben und dann die Emotionen wieder herunterregulieren - beim Sport, im Berufsleben und auch in sexuellen Kontexten seien je nach Situation unterschiedliche Facetten gefragt.
Doch wie lernen Jungen, mit den unterschiedlichen Idealvorstellungen umzugehen? „Eine pädagogische Reaktion auf die gesellschaftlichen Anforderungen wäre, Jungen davon zu entlasten. Ich bewerte nicht, ob du einen Rock oder eine Hose anhast. So wie du bist, bist du okay“, rät Stephan Höyng. Ebenfalls wichtig: Gefühle zulassen.
Wer versuche einem eher traditionellen Männerbild nachzueifern, laufe Gefahr, das Fühlen, Mitfühlen und In-sich-hinein-spüren zu verlernen. Alles Fähigkeiten, die beim traditionellen Männerbild keine Rolle spielen. „Dann droht eine Art emotionaler Kälte im Inneren. Eine Entwicklung, die dazu führt, dass ich nicht mehr spüren kann, was anderen, aber auch was mir guttut und was nicht“, so Höyng.
Während die meisten Eltern ganz genau sagen könnten, wie ihr Sohn nicht sein soll - nämlich zu laut, zu wild, gar sexistisch oder ausgrenzend - fiele es vielen Menschen schwer, positive Eigenschaften zu benennen, sagt Reinhard Winter. „Früher konnte man sagen, Männer müssen stark sein. Und als Junge konnte man darauf reagieren und überlegen, ob man beispielsweise ins Fitnessstudio geht. Aber wenn ich immer nur weiß, wie ich nicht sein soll, fehlt die Orientierung zu dem, wer oder wie ich sein kann und soll“, sagt Winter.
Auch eine Einstellung à la „sei einfach du selbst“, biete wenig Orientierung. Stattdessen gelte es, Jungen positiv zu bestärken und ihnen aufzuzeigen, wie sie sich in schwierigen Situationen verhalten können. Das betreffe nicht nur ausgegrenzte Jungen, sondern auch solche, die eher dem traditionellen Männertypus entsprechen.
„Wenn Jungen gerne kämpfen, schrecken viele Eltern zurück. Wenn wir aber sagen, du darfst so männlich sein, wie du bist, schließt das auch ein, dass manche Jungen in Richtung überlegene Männlichkeit tendieren und Kultivierungsunterstützung brauchen“, so Winter. Zum Beispiel im Spiel. So spreche nichts gegen das Spiel mit der Ritterburg, bei dem schwere Schlachten geschlagen werden. „Ich kann lustvoll kämpfen und gleichzeitig das Spiel erweitern. Zum Beispiel müssen die verletzten Ritter versorgt werden. Wir brauchen einen Rot-Kreuz-Ritter.“
Auf unterschiedliche Situationen angemessen reagieren: am besten lernen Jungen das über gute männliche Vorbilder. „Kinder brauchen Bilder, nach denen sie handeln. Dafür ist es sehr schön, wenn es konkrete Männer gibt, die zugewandt sind und Emotionen zeigen können. Aber natürlich holen Kinder und Jugendliche sich auch Vorbilder über Medien, und das sind oft klischeehafte Figuren“, sagt Höyng.
Was den Medienkonsum und soziale Netzwerke betrifft, empfiehlt der Professor deshalb, nah an den Themen der Jugendlichen zu bleiben: „Jenseits von Ermahnungen sollte ich Gespräche über die Themen führen, die mein Kind interessieren. Da muss man sich auch den ein oder anderen Influencer mal selber anschauen.“
Positives Bestärken hält Reinhard Winter für den richtigen Weg. Übrigens auch, wenn Jungen plötzlich als Prinzessin oder Einhorn in den Kindergarten gehen wollen. „Auch mein Sohn wollte partout als Prinzessin in den Kindergarten gehen. Wir haben uns große Sorgen über mögliche Ausgrenzung gemacht und einen Notfallplan mit Wechselkleidung geschmiedet. Aber da war überhaupt nichts. Er war eine wunderschöne Prinzessin und in dieser Situation rundum glücklich“, so Winter.
Natürlich gäbe es in solchen Situationen das Risiko, dass sich fremde Personen lustig machen. Aber für Winter wäre es schlimm gewesen, „hätten wir ihm die Verkleidung madig gemacht oder ihn gewarnt. Man kann als Eltern schon darauf vertrauen, dass die Jungen mit solchen Situationen umgehen können. Spitzt es sich tatsächlich zu, ist das ein Anlass, um gemeinsam Geschlechterthemen zu diskutieren und sich daran weiterzuentwickeln.“
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