Wer sich mit Modegeschichte beschäftigt, erkennt rasch: Kerle mit Kette sind eigentlich normaler als Herren ohne Schmuck. Nach Jahrzehnten eines schlechten Rufs des Goldkettchens zum Beispiel erlebt Männerschmuck derzeit ein Comeback.
Und das geschieht bei vielen Typen, vom Macho-Macker bis zum Muttersöhnchen. Was hat es mit dem „Statement Necklace“ auf sich? Bei einer Filmpremiere in Los Angeles trug Freestyle-Skisportler Gus Kenworthy (31) neulich sogar zum Smoking eine zarte Kette, „Elvis“-Darsteller Austin Butler (31) trug eine feine in Beverly Hills beim Oscar-Nominierten-Lunch. In der modischen Netflix-Serie „Emily in Paris“ trägt der Lover von Emily Cooper, ein Banker aus London, gern mal - statt einer Krawatte - eine glitzernde Halskette zu Hemd und Sakko. Zum Polo-Shirt hat Alfie, der von Lucien Laviscount (30) verkörpert wird, auch öfter eine Kette um.
Popsänger Harry Styles (etwa kürzlich bei den Grammy Awards), Schauspieler Timothée Chalamet, viele Influencer, Hip-Hop- oder K-Pop-Stars, Internet-Promis wie die Elevator Boys, Tennisspieler Alexander Zverev und andere Sportler schmücken sich sowieso mit Ketten verschiedener Art. Auch im Sommer 2023 wird das Männerkettchen - lange klassistisch als Proll-Orden verachtet - wieder angesagt sein: Wenn der Ausschnitt tiefer oder der Oberkörper nackt ist, zieht glänzender Schmuck die Blicke auf sich. Sexobjekt Mann.
Der Männlichkeitsforscher Toni Tholen von der Universität Hildesheim sagt, Herrenketten kompensierten zum Teil den Attraktivitätsschwund formaler Männerbekleidung. „Vor allem der Anzug-mit-Krawatte-Look gilt heute meist als langweilig. Mit dem Modewechsel geht auch die neoliberale Aufforderung einher, bürokratisches, distanziertes, steifes Auftreten zu vermeiden und sich stattdessen sexy, interessant, spielerisch, nahbarer und ein wenig queer zu geben.“
Männer wollten jedoch weiterhin Souveränität und Entschiedenheit ausstrahlen, sagt der Literaturwissenschaftler. „Dazu setzen sie dann zum Beispiel ihre Brustbehaarung und den Bart als Männlichkeitsmarker ein - und trainierte, muskulöse Körper oder Tattoos.“ Tholen sieht Halsketten auch als eine neue Art von Schlips. „Ketten sind insofern die neuen Krawatten, als sie den Phallus, den die Krawatte bisweilen symbolisiert, unsichtbarer erscheinen lassen.“
Das Kettchen-Tragen weise auf eine in der Männlichkeitsforschung als „hybrid“ bezeichnete Männlichkeit hin. „Als „weiblich“ codierte Aspekte werden in männliche Gender-Performance integriert, ohne dass die Position privilegierter Männlichkeit infrage gestellt wird.“ Da Mode Modernisierung oft bloß simuliere, sei effeminierender Männerschmuck wie Ketten auch Teil einer nur scheinbar modernisierten Männlichkeit. „Hinter spielerischer Fassade lauern oft noch Machos.“
Im Alten Ägypten drückte Herrenschmuck einen hohen Stand aus, bei den Römern gab es Halsketten, Brustnadeln und Armspangen, ebenso in der Renaissance. Im Barock setzte der Adel dann - allen voran Sonnenkönig Ludwig XIV. von Frankreich - auf Glitzer überall.
Bis zur Französischen Revolution und dem allmählichen Ende der alten Adelsherrschaft schmückte sich der Mann, wenn er reich war, farbenfroh und prächtig. Mit Napoleon und dem 19. Jahrhundert wich der verspielte Herrenschmuck eher Abzeichen und militärischen Orden.
Mit dem Biedermeier veränderte sich die Herrenmode grundlegend - zumindest in Europa und Nordamerika: Erst kam der strenge Gehrock und schließlich im 20. Jahrhundert der Anzug oder für den Abend der Frack oder Smoking. Prächtige Schmuckstücke waren für Männer plötzlich verpönt. Je karger, desto männlicher - so das behauptete neue Ideal.
Als Accessoires empfahlen Experten noch bis vor Kurzem meist nur ganz wenig für den feinen Herrn: eine schöne Armbanduhr, ein gutes Paar Manschettenknöpfe und, wenn verheiratet, einen bescheidenen Ehering.
„Bei Anzug und Hemd in gedeckten Farben waren bunte Krawatten lange Zeit der einzige erlaubte Schmuck“, sagt Carl Tillessen vom Deutschen Mode-Institut (DMI). „Während der Rest des Outfits nüchtern gehalten wurde, waren Krawatten die paar Quadratzentimeter Seide, mit denen sich Männer austoben durften.“ Das sei schlagartig vorbei gewesen, als Anfang des Jahrtausends der schmale Schlips angesagt wurde, der ebenfalls in gedecktem Uni gehalten war. „Man könnte sagen, dass der verantwortliche Designer, Hedi Slimane, der Krawatte damit einerseits zum Comeback verhalf und sie gleichzeitig überflüssig machte.“
DMI-Chefanalyst Tillessen sagt, bei Ketten als neuen Krawatten ließen sich mindestens zwei verschiedene Typen unterscheiden: „Auf der einen Seite gibt es dicke Gangster-Goldketten, die häufig mit einer hypermaskulinen Macho-Attitüde getragen werden.“ Das boome derzeit, weil die Athleisure-Mode der letzten Jahre - von „athletic“ (sportlich) und „leisure wear“ (Freizeitkleidung) - stark von einer Hip-Hop-Attitüde geprägt sei. „Also wollen alle ein bisschen Street und Ghetto sein und kokettieren mit dem Neureichen und Prolligen.“
Auf der anderen Seite trügen Jungs und Männer feine Kettchen, auch Perlenketten „Das ist Ausdruck des neuen, androgynen Männerbildes. Es breitet sich aus, weil zunehmend traditionelle Geschlechterrollen und Gender-Identitäten hinterfragt werden. Genderfluide Accessoires drücken das Bedürfnis aus, sich auch äußerlich von toxischer Männlichkeit oder sogenannten alten weißen Männern zu distanzieren.“
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