„Winter-Märchen“ im Tischtennis: Auch Boll ist beeindruckt | FLZ.de | Stage

arrow_back_rounded
Lesefortschritt
Veröffentlicht am 30.12.2025 08:09

„Winter-Märchen“ im Tischtennis: Auch Boll ist beeindruckt

Europas Nummer eins: Tischtennis-Spielerin Sabine Winter. (Foto: Manfred Schillings/dpa)
Europas Nummer eins: Tischtennis-Spielerin Sabine Winter. (Foto: Manfred Schillings/dpa)
Europas Nummer eins: Tischtennis-Spielerin Sabine Winter. (Foto: Manfred Schillings/dpa)

Nicht alles hängt im Leistungssport immer nur vom Können und von der Form ab. Manchmal spielt die Technik eine entscheidende Rolle. Läuferinnen und Läufer in Carbonschuhen haben die Marathon-Weltrekorde pulverisiert. Mit einem Aluminium-Röhrchen an seiner Skibindung wurde der Schweizer Simon Ammann noch einmal Skisprung-Olympiasieger.

In den vergangenen Monaten stieg ein deutsches Tischtennis-Ass mit 33 Jahren zur besten Spielerin Europas auf, weil sie sich einen völlig anderen Belag auf ihren Schläger geklebt hat. Sabine Winters „Anti-Topspin“: Das ist eine der besten und auch riskantesten Ideen des Sport-Jahres 2025.

„Wenn das nicht geklappt hätte, wäre wahrscheinlich meine Tischtennis-Karriere jetzt beendet oder wären zumindest die Tage in der Nationalmannschaft für mich gezählt gewesen“, sagte Winter der Deutschen Presse-Agentur. „Es haben die Allerwenigsten geglaubt, dass das funktionieren kann.“

Tischtennis-Belag als Wissenschaft

Wer einen Internetshop für Tischtennis-Bedarf aufsucht, kann dort zwischen mehr als 400 verschiedenen Belägen für unterschiedliche Spielweisen wählen. Es ist eine Wissenschaft für sich. Auf Weltklasse-Niveau achten allerdings fast alle Spielerinnen und Spieler darauf, bei ihren Schlägen möglichst viel Tempo und Effet zu erzeugen.

Das „Winter-Märchen“ („Tischtennis-Magazin“) besteht darin, mit ihrem Belag auf der Rückhand-Seite genau das Gegenteil zu bewirken und nach 15 Profijahren überhaupt noch einmal ihre Spielweise zu ändern. „Das“, sagte sie, „hat davor noch nie jemand gewagt.“

Konkret hat ihr Belag eine glatte, reibungsfreie Oberfläche und einen Dämpfungsschwamm. Schlägt die Gegnerin den Ball mit viel Härte und Spin über das Netz, nimmt Winter damit Tempo und Rotation aus den Ballwechseln heraus. Manchmal fällt ein Rückhandball der Deutschen kurz hinter dem Netz auf den Tisch - was viele Gegnerinnen irritiert, frustriert oder nervös macht.

Die Ergebnisse sind beeindruckend. In der Weltrangliste kletterte die Bundesliga-Spielerin des TSV Dachau zeitweise bis auf Platz 16. Bei der erfolgreichen Team-EM im Oktober gewann sie von der Gruppenphase bis zum Endspiel jedes ihrer sechs Einzel. Die Rumänin Bernadette Szöcs als bislang beste Spielerin Europas wurde von Winter in diesem Jahr zweimal in 3:0 Sätzen zerlegt.

Sieg gegen Top-Chinesin

Am deutlichsten sichtbar wurde ihre Entwicklung aber bei der mit Abstand größten Herausforderung ihres Sports: eine der alles dominierenden Chinesinnen zu schlagen. Sieben der besten acht Spielerinnen in der aktuellen Weltrangliste kommen aus China. 23 der vergangen 24 Weltmeister-Titel im Einzel gingen bei den Frauen an die Tischtennis-Weltmacht.

Früher, sagte Winter, sei vor einem solchen Duell für sie nur die Frage gewesen, „ob ich das in fünf oder in zehn Minuten verliere“. Dieses Jahr aber schlug sie die Weltranglisten-Dritte Chen Xingtong beim Grand-Smash-Wettbewerb in Malmö und vergab im November im Finale des internationalen Turniers in Montpellier einen Matchball gegen die Team-Weltmeisterin Wang Yidi.

Montpellier war für sie ein „einmaliges Erlebnis, das mir immer in Erinnerung bleiben wird“. Die französischen Fans feierten Winter von Runde zu Runde mehr. Ihren neuen Spielstil mit einem Fußball-Amateurclub zu vergleichen, der in einem DFB-Pokalspiel gegen einen Bundesligisten nur das eigene Tor verbarrikadiert, greift allerdings viel zu kurz.

Winter war schon vorher eine viermalige Mannschafts- und zweimalige Doppel-Europameisterin. Jede Gegnerin, die sie mit ihrem neuen Rückhand-Belag aus dem Konzept bringt, kann sie danach auch mit ihrer starken Vorhand dominieren.

Lob von einer Legende

„Ich habe eine sehr starke Waffe - die Vorhand“, erklärte sie. „Und ich bin auch bereit, viel zu schwitzen, viel zu laufen und mich schnell zu bewegen.“ Der neue Belag helfe ihr vor allem, „meine eigentlichen Stärken ins Spiel zu bringen“. Sie habe „das Ganze zu einem sinnvollen Spielsystem zusammengebastelt“.

Und sie wusste auch: „In Deutschland gibt es sehr viele gute Leute. Andere haben viel mehr Aufmerksamkeit bekommen. Und ich bin nur nebenher mitgeschwommen. Mir war klar: Wenn ich noch eine größere Rolle spielen und einen großen Schritt nach vorn machen will, dann brauche ich eine große Veränderung.“

Trotzdem bestand am Anfang ein großes Risiko. Winter musste dieses Wagnis ihrem Verein erklären, der in der Bundesliga auf ihre Punkte angewiesen ist. Und der Bundestrainerin, die nicht an einen Erfolg der Sache glaubte.

„Ganz ehrlich: Ich habe nicht erwartet, dass sie so gut sein kann“, sagte Tamara Boros. „Die Gegnerinnen wissen nicht, was passiert.“ Und auch die größte deutsche Tischtennis-Legende ist beeindruckt: „Wahnsinn“, sagte Timo Boll. „Sabine Winter ist mit ihrem neuen Spielstil durch die Decke gegangen.“

© dpa-infocom, dpa:251230-930-479011/1


Von dpa
north