Kann es sein, dass ein Hetzartikel gegen einen Pfarrer aus Egenhausen, heute ein Ortsteil der Gemeinde Obernzenn, einst der Anlass dafür war, dass eine Ausgabe des „Stürmer“ beschlagnahmt und die Publikation für einige Zeit sogar verboten wurde?
Jedenfalls schlug der Artikel in der antisemitischen Wochenzeitung, die der NSDAP-Gauleiter von Franken, Julius Streicher, seit 1933 herausgab, hohe Wellen. Die vielen Solidaritätsbekundungen für den Pfarrer Wilhelm Müller zeigten jedenfalls Wirkung. Zur Wiederherstellung seines Rufes wurde eine Erklärung von allen Kanzeln im Dekanat Windsheim verlesen. Die Egenhäuser Angehörigen der NSDAP, die sich ebenfalls hinter ihren Pfarrer gestellt hatten, wurden dagegen aus der Partei geworfen. Der Egenhausener Klaus Herbolsheimer erinnert sich gegenüber der FLZ an Erzählungen seines Vaters aus dieser Zeit.
Die Ereignisse aus dem Jahr 1933 sind in mehrerer Hinsicht symptomatisch und gleichermaßen erstaunlich: Sie belegen, wie weit der Judenhass schon so kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten verbreitet war. Zum anderen überrascht es aber auch, dass der Proteststurm, der den Machthabern von etlichen Seiten entgegenschlug, noch Wirkung entfaltete.
Der entscheidende Zusammenstoß des Pfarrers mit dem Egenhausener Ortsgruppenleiter und Lehrer Mitschke ereignete sich am 16. Juli 1933. Letzterer hatte zu einer Versammlung eingeladen und dabei ausgiebig gegen die Juden gehetzt. Müller riss irgendwann die Hutschnur. Schließlich erhob er sich und ergriff, wie er ein paar Tage darauf angab, „von Gewissensnöten getrieben“ das Wort.
Ein Teil der Diskussion war rein theologisch: Müller verwahrte sich dagegen, dass Müller das Alte Testament teilweise streichen wollte, um aus den „jüdischen Christen deutsche Christen“ zu machen. Hinzu kam dann aber bei allen eigenen Vorurteilen gegen die Juden eine menschliche Komponente. Dass diese als „untertierische Rasse“ bezeichnet werden, denen man die „Gnade Gottes, Erlösungsfähigkeit und Menschenwürde“ abspricht, geht Müller, der den Nazis ansonsten durchaus wohlgesonnen war, eindeutig zu weit. Dagegen müsse sich das christliche Gewissen auflehnen. Prompt kommt es zum Eklat.
Was folgt, ist ein zunächst für den Pfarrer zermürbender, mündlicher und schriftlicher Austausch mit seinen Vorgesetzten. Besonders bitter für Müller: Mitschke wird im August auch noch während eines Kuraufenthalts des Pfarrers als Mitglied der Landessynode vorgeschlagen. Das empfindet der Egenhäuser Seelsorger als „Stoß in den Rücken eines in schwerem, pflichtgemäßen Kampf stehenden Kollegen“. Seine bittere Klage wird vom Dekan jedoch zunächst brüsk zurückgewiesen.
Im Oktober erreicht die Eskalation dann eine neue Stufe: Im „Stürmer“, dem Kampfblatt Julius Streichers, erscheint ein anonymer Artikel gegen den Pfarrer. Auf übelste Weise wird der Geistliche darin beschimpft. Unter Titeln wie „Pfarrer Müller als Volksverräter“ und „ein Judenknecht kann nicht länger Prediger in Egenhausen sein“ wird eine dreiviertel Seite lang gegen das Pfarrhaus gehetzt. Der Artikel gipfelt in der Aussage: „Pfarrer Müller ist reif für Dachau.“
Was nun folgt, ist ein allgemeiner Proteststurm – von kirchlicher Seite, aber auch aus der Gemeinde des beliebten Landpfarrers. Schon am 17. Oktober verfassen 19 NSDAP-Angehörige aus Egenhausen einen empörten Brief an den Gauleiter (das war Julius Streicher, der Herausgeber des Stürmers), in dem sie sich für die angebliche nationalsozialistische Überzeugung Müllers verbürgen. Am 18. Oktober schicken die Kapitelsbeauftragten des Kirchenkreises Ansbach ein Telegramm an Landesbischof Hans Meiser: „Über Stuermerartikel gegen Mueller Egenhausen tiefst empört. Bitten um Schutz.“
Die sieben Kirchenvorstände aus Egenhausen-Unternzenn schreiben an den Landeskirchenrat in München. Ein Brief des Sonderbeauftragten für Volksmission folgt. 50 Pfarrer hatten am Tag zuvor ein gemeinsames Schreiben verfasst und eine regelrechte Kampagne auslösen wollen: Jeder evangelische Pfarrer im Freistaat solle einen eigenen Brief an den Ministerpräsidenten verfassen. Der Landeskirchenrat um Bischof Meiser versucht zunächst, zu beschwichtigen, und verhindert die konzertierte Aktion. Dann wird er aber selbst tätig und wendet sich an die bayerische Staatskanzlei. Am 24. Oktober schließlich formuliert der Pfarrverein in Nürnberg eine „Entschließung“, die Müller voll und ganz rehabilitiert und die am Sonntag von allen Kanzeln im Dekanat Windsheim verlesen wird.
All der Protest bleibt nicht ohne Wirkung: Aus der bayerischen Staatskanzlei fragt man einigermaßen zerknirscht beim Landeskirchenrat an, worin denn die geforderte Wiedergutmachung bestehen soll. Auch Streicher, der Nürnberger Judenhasser, bekommt dabei sein Fett weg: „Unabhängig davon habe ich die Polizeidirektion Nürnberg-Fürth zu Erhebungen beauftragt, wie die Schriftleitung des „Stürmer“ den Artikel mit den Vorschriften der Ministerialbekanntmachung (...) vereinbaren zu können glaubt“, heißt es aus der Staatskanzlei.
Sieg auf ganzer Linie also? Nicht ganz. Streicher selbst scheint wenig beeindruckt von den Vorfällen zu sein. Im Dezember schließt er die 19 Egenhäuser, die als erstes gegen die Behandlung ihres Pfarrers protestiert hatten, aus der Partei aus. Landesbischof Meiser schreibt entsetzt an Pfarrer Müller, er solle ihnen seinen Dank aussprechen „für den Mut und die Treue, mit der sie sich schützend vor ihren zu Unrecht angegriffenen Pfarrer gestellt haben“. Dann erscheint ein weiterer Artikel im Stürmer, der sich – weniger scharf und ohne persönliche Angriffe – den Pfarrverein und seine Solidaritätsbekundung mit Müller vornimmt. Eine Kopie dieses zweiten Artikels ohne Foto wurde der FLZ übrigens von Reinfried Hadlich aus Markt Erlbach zur Verfügung gestellt.
Weil der NSDAP-Ortsgruppenleiter Mitschke im November 1933 auf eigenen Wunsch hin nach Windsheim versetzt wird, sind die beiden Kontrahenten künftig getrennt. Erst im August 1934 schreibt der Präsident der Reichspressekammer an den Landeskirchenrat und möchte das Thema offensichtlich zu den Akten legen: Bekanntlich habe „der Führer selbst die betreffende Nummer des ,Stürmer‘ beschlagnahmen“ lassen und die Zeitung für einige Zeit verboten. Damit sei ja nun wohl alles erledigt. Erledigt hatten sich jedoch leider weder der „Stürmer“ noch der unsägliche Judenhass, wie die Geschichte zeigt.
1936 bewirbt sich Müller von Egenhausen weg nach Dickenreishausen im Landkreis Memmingen, wo schon sein Vater als Pfarrer tätig war. In Egenhausen wird, wie Klaus Herbolsheimer aus Erzählungen seines Vaters weiß, von einer „Strafversetzung“ gesprochen.